Haste ma ’ne Milliarde?

Henning Kullak-Ublick

Die 85 reichsten Mitbewohner unseres Planeten besitzen zusammen ziemlich genau so viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. 3.500.000.000 : 85 = 45.000.000. Jeder einzelne der 85 besitzt rechnerisch also 45 Millionen Mal mehr als seine ärmeren Zeitgenossen.

Winnie Byanyima, die Chefin der international tätigen Hilfsorganisation Oxfam veröffentlichte diese Zahlen am 20. Januar im Vorfeld des Weltwirtschaftsforums (WEF) in Davos und brachte sie so auf den Punkt: »Es ist erschreckend, dass die halbe Weltbevölkerung im 21. Jahrhundert nicht mehr besitzt als eine winzige Elite, die bequem in einem einzigen Eisenbahnwaggon Platz nehmen könnte.« In ihrem Bericht weist Oxfam auch darauf hin, dass 21.000.000.000.000.000.000 = 21 Trillionen US-Dollar von Unternehmen und Einzelpersonen in Offshore-Steueroasen versteckt werden.

Man braucht kein Sozialist zu sein, um sich die Folgen der immer weiter auseinanderklaffenden Schere zwischen reich und arm auszumalen. Das WEF stuft Einkommens-Ungleichheiten als das zweitgrößte weltweite Risiko der kommenden zwölf bis achtzehn Monate ein, übertroffen nur von den Entwicklungen im Mittleren Osten und Nordafrika. Längst hebelt die geballte Finanzmacht global aufgestellter Finanzjongleure und Konzerne die Souveränität einer wachsenden Zahl von Ländern aus und Renditen bestimmen über die Realwirtschaft. Allein der Lebensmittelkonzern Monsanto hält 90 Prozent aller Patente auf genmanipuliertes Saatgut und kontrolliert weite Teile der weltweiten Nahrungsmittelproduktion. Die derzeitigen Verhandlungen zwischen den USA und der EU über das Freihandelsabkommen haben als ein Ziel, ungehindert Genmais und Hormonfleisch aus den USA in Europa absetzen zu können.

Winnie Byanyimas Weckruf wendet sich an die Vernunft und das Gewissen derjenigen, die sich noch als handlungsfähig erleben. Was hat das also mit uns zu tun?

Unmittelbar vor der Gründung der ersten Waldorfschule hielt Rudolf Steiner einen Vortragszyklus, in welchem er auf die Bedeutung der Zeit zwischen Pubertät und Erwachsenenalter für das Verständnis wirtschaftlicher Prozesse einging. Es komme darauf an, so Steiner, dass die jungen Menschen die Chance bekämen, in diesem Lebensabschnitt eine umfassende »Liebe zur äußeren Welt« zu entwickeln, um überhaupt verstehen zu können, was »Brüderlichkeit«, das viel zitierte dritte Ideal der Französischen Revolution, konkret bedeutet. Die hier angesprochene Liebe zur Welt hat ihre Basis in einem erkenntnisgetragenen, fragenden Interesse und ist alles andere als sentimental.

Schon im dritten Schuljahr begegnen Waldorfschüler in der Landbau- und den Handwerker-Epochen dem Wirtschaftsleben. Wir haben wirklich viel Zeit, um durch die Mittel- und Oberstufe bis zum Ende der Schulzeit ein echtes Verständnis für wirtschaftliche Prozesse, das Geldwesen und verantwortliches unternehmerisches Handeln zu entwickeln. Nutzen wir sie? – Nutzen wir sie!

Henning Kullak-Ublick, von 1984–2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, Aktion mündige Schule (www.freie-schule.de)