Helikopter, Tiger oder Könner?

Henning Kullak-Ublick

»Würdet ihr einen Typen heiraten, der bis zur Schule gestillt wurde?«, fragte die Autorin Tracey Morrissey in einem Blog und fügte hinzu: »Macht euch klar, welche Familienfeiern mit welchen Schwiegermüttern ihr durchzustehen hättet.« Vor einem Jahr sorgte ein Titelbild des US-Magazins »Time« mit einer stillenden Mutter für großes Aufsehen. Ihr Sohn stand nämlich, während er sich an der Milch labte, aufrecht auf einem Stuhl und ging auf seinen vierten Geburtstag zu. »Sind Sie Mutter genug?« fragte das Magazin die Leserinnen und berichtete von einer wachsenden Zahl von Eltern, die ihre Kinder überhaupt nicht mehr aus ihrer Schutzhülle entlassen, sondern in jedem Moment ihres Lebens vor jeglicher Frustration oder Gefahr bewahren wollen.

Mit dem genauen Gegenteil erlangte ein Jahr zuvor die Jura-Professorin Amy Chua Berühmtheit: In ihrem Bestseller »Battle Hymn of the Tiger Mother« schildert sie, wie sie ihre Kinder mit radikaler Strenge und Disziplin erzieht und ihnen so eine bessere Ausgangsposition gegenüber der verweichlichten westlichen Erziehung verschaffen will.

»Helikopter-Eltern« oder »Tigermütter« – wer hat denn nun recht? In beiden Extremen geht es gar nicht um die Bedürfnisse der Kinder, sondern um die Erwartungen und Ängste der Erwachsenen, die inmitten einer unübersichtlich gewordenen Welt zwischen Überbehütung und dem Drill für einen befürchteten Kampf ums Dasein hin und hergerissen sind. Ich schreibe nicht »der Eltern«, sondern »der Erwachsenen«, weil sich dieser Widerspruch genauso in einer völlig überdrehten Konsumwelt für und knallharten Leistungserwartungen an Kinder wiederfindet.

Einen ganz anderen Ansatz beschrieb der Historiker und Waldorflehrer Christoph Lindenberg schon 1975 in seinem Bestseller »Angstfrei lernen – selbstbewusst handeln«, der die »Praxis eines verkannten Schulmodells« populär machte und einen wesentlichen Anteil an der rasanten Verbreitung der Waldorfschulen hatte. Es ging um einen Leistungsbegriff, der auf der individuellen Willensanstrengung, auf wachsendem Weltinteresse und auf der Erfahrung der eigenen Wirksamkeit basiert.

Zum Lernen braucht es weder Heliports noch Raubtierkäfige. Wenn man schon solche Bilder bemüht, dann wäre der Bauernhof ein gutes Leitbild, denn dort wird gepflügt, gesät, gepflegt, geerntet – und gefeiert! Alles, was passiert, ergibt einen Sinn, der sich aus den Lebensbedingungen selbst ergibt. Arbeit gibt es dort – wir sprechen von der bäuerlichen Landwirtschaft – für jedes Alter, für jede Begabung, für den einzelnen wie für die Gemeinschaft.

Erziehung sollte sich nie an den Ängsten, sondern an den Möglichkeiten orientieren, die in jedem Menschen schlummern. Unser Waldorfstand auf der diesjährigen Didacta erfuhr viel Zuspruch, weil dort unmittelbar erlebbar war, wie Inklusion funktionieren kann. Nicht nur arbeiteten die Verbände der Waldorf- und heilpädagogischen Schulen mit den Kindergärten zusammen, sondern die Schülerinnen und Schüler der integrativen Kölner Michaeli-Schule ließen für alle Besucher unmittelbar erlebbar werden, was den Weg zwischen Helikoptern und Tigern weist: »Jedes Kind ein Könner«.

Henning Kullak-Ublick, von 1984 – 2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, Aktion mündige Schule (www.freie-schule.de)