Hyperaktive Diagnostiker

Georg Wahrmund

In den vergangenen Jahren haben wir staunend die galoppierende Vermehrung eines neuen Syndroms beobachtet, das als ADHS bezeichnet wird. Was manchen als normale kindliche Verfassung erschien, war für andere ein Krankheitssymptom. Eine amerikanische Forschergruppe hat nun nach eingehender Untersuchung festgestellt, dass etwa 20% aller ADHS-Diagnosen unzutreffend ist. Und zwar deswegen, weil die untersuchten Kinder jünger waren als andere, die zusammen mit ihnen in den Kindergarten oder die Schule aufgenommen wurden. Was von Psychologen, Lehrern und Sachverständigen als ADHS diagnostiziert wurde, war nichts als eine altersgemäße Verhaltensweise.

Todd Elder und seine Mitarbeiter sind sich sicher: schon ein paar Tage Unterschied im Geburtstermin erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass beim betreffenden Kind ADHS diagnostiziert wird, um 25%. Etwa drei- bis fünfhundert Millionen Dollar sollen die Amerikaner unnötigerweise für Medikamente ausgegeben haben, die auch noch überflüssigerweise verabreicht wurden, – an Kinder, die in Wirklichkeit gesund waren. Hält man dies mit der Feststellung einer großen deutschen Krankenversicherung zusammen, dass in den letzten vier Jahren die Zahl der Kinder und Jugendlichen, denen Ritalin oder ähnliches verabreicht wurde, um 25% gestiegen ist, zeichnet sich ein unglaublicher Skandal ab. Heute wird in Deutschland zehnmal mehr Ritalin verabreicht als Ende der 1990er Jahre. 

Diese Befunde lassen nur zwei mögliche Schlüsse zu: entweder, die Kindheit und Jugend ist von einer epidemischen Krankheit befallen, über deren Ursachen sich trefflich streiten lässt, oder die Erwachsenen, die sich – professionell oder nicht – mit ihrer Beurteilung und Begutachtung befassen, sind von einer Epidemie der Urteilsunfähigkeit befallen. Für das Vorhandensein der letzteren sprechen deutlich die Befunde. Verwirft man einmal die Annahme, dass die heranwachsende Generation über Nacht von einer unheimlichen Nervenkrankheit befallen wurde, die sich geradezu pandemisch ausbreitet, sollte man sich Gedanken über die Ursachen der grassierenden Urteilsverirrung machen.

Was verleitet Fachleute und auch Laien dazu, Menschen, die in Wahrheit gesund sind, als krank einzustufen? Vermutlich die Tatsache, dass ihnen eine Vorstellung davon, was gesund ist, völlig abhanden gekommen ist. Warum das? Weil sich die Urteilsbildung so sehr vom realen Leben entfernt hat, dass dieses Leben inzwischen als abnormal erscheint. Das Urteil wird nicht mehr an die Realität angepasst, sondern die Realität wird an das Urteil angepasst. Genau das geschieht, wenn man einem gesunden Kind ein Medikament verabreicht, das ihm die Gesundheit austreibt, um es in einen Zustand überzuführen, den man für gesund hält, der aber in Wahrheit ein Krankheitszustand ist. Erinnert uns dies an etwas? Richtig! Wir können diagnostizieren: was hier stattfindet, ist die Umformung der Realität nach Maßgabe einer Ideologie. Das Wesen einer Ideologie ist, dass sie die Wirklichkeit nicht so sieht, wie sie ist, sondern sie so umdeutet, dass sie als etwas anderes erscheint. »Lüge ist Wahrheit«, »Krieg ist Frieden«, – Gesundheit ist Krankheit, Krankheit Gesundheit.

Im vorliegenden Fall wird das Abweichende, das Ungewöhnliche, das Auffallende mit Hilfe von Psychopharmaka in eine Norm eingepasst, von der man sich fragen kann, wer sie eigentlich in Kraft gesetzt hat. Wessen Aufmerksamkeit ist denn nun gestört: die der Kinder, bei denen fälschlicherweise ADHS diagnostiziert wurde, oder die der Diagnostizierenden? Wenn wir aufmerksam das Leben beobachten, stellen wir fest, dass wir dieser realen Aufmerksamkeitsstörung überall begegnen: in Behörden, bei Banken (Finanzkrise), in Krankenhäusern (iatrogene Krankheiten), in Kfz-Werkstätten, in Universitäten ... ADHS ist im Grunde genommen eine unbewusste Projektion unserer eigenen Aufmerksamkeitsstörung auf ein Objekt, das sich nicht dagegen wehren kann. Wir Erwachsenen, die versäumen, die eigene Lebens- und Berufswelt mit jener Aufmerksamkeit zu durchdringen, die es uns erlauben würde, sie wirklich aus dem Ich heraus zu gestalten, wälzen die daraus resultierenden Probleme auf jenen Teil der Menschheit ab, der noch nicht von unserer Krankheit befallen ist, weil er der Quelle noch näher steht, aus der die Gesundheit sprudelt. Machen wir uns nichts vor: nicht die Kinder und Jugendlichen müssten therapiert werden, sondern wir, die Erwachsenen.

Setzen wir uns deswegen für das Recht auf eine wilde Kindheit ein!

Mehr zum Thema Gesundheit und Krankheit finden Sie im Sommerdoppelheft 2010 der Erziehungskunst.