Ich lese was, was Du nicht siehst

Henning Kullak-Ublick

Im Gefängnis schrieb Rosa Luxemburg 1917 ihre berühmten Worte: »Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden, sich zu äußern. Nicht wegen des Fanatismus der Gerechtigkeit, sondern weil all das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die Freiheit zum Privilegium wird.«

An diese Worte musste ich denken, als ich die folgende E-Mail einer Mutter an unsere Redaktion las: »...wie geht man eigentlich mit folgendem Sachverhalt um: Einige Lehrer unserer Waldorfschule missbilligen bestimmte Artikel in der Erziehungskunst und haben daher beschlossen, sie schlicht nicht mehr auszuteilen. Der Lehrer meiner Tochter stellte es so dar: ›Wir sind der Meinung, dass einiges in der Zeitschrift nicht unserer Idee ... der Waldorfpädagogik entspricht.‹ Kurzerhand hat man das Verteilen der Zeitschrift in einigen Klassen (ohne Konferenzbeschluss) eingestellt. Da dies mal ein ganz plastisches Beispiel dafür ist, wie sehr uns als Eltern hier vor Ort ... die Mündigkeit abgesprochen wird, frage ich: Inwiefern ist ein solches Handeln überhaupt noch mit dem Freiheits-Gedanken Steiners vereinbar?«

In seiner Philosophie der Freiheit schrieb Rudolf Steiner viele Jahre, bevor er 1919 die Leitung der Waldorfschule übernahm, einen bemerkenswerten Satz: »Man muss sich der Idee erlebend gegenüberstellen können; sonst gerät man unter ihre Knechtschaft.«

Um welche Ideen geht es hier? Um Waldorfpädagogik, Freiheit und Mündigkeit – drei Ideen, denen sich die Redaktion und die Herausgeber der Erziehungskunst zutiefst verpflichtet wissen. Wir möchten diese Ideen für unsere Leserinnen und Leser erlebbar machen, ihre Urteilsbildung anregen und sie am liebsten auf eigene Ideen bringen. Wir wollen das pädagogische Leben fördern; konservieren mögen es andere.

Rudolf Steiner kämpfte sein Leben lang für die Idee der Freiheit – erlebend: Zuerst entwickelte er seinen Freiheitsbegriff philosophisch, dann beschrieb er Wege zur Erlangung individueller Freiheit und seit 1917 kämpfte er für die Freiheit des Geisteslebens in einem gegliederten sozialen Organismus. Und wie hielt er es mit der Mündigkeit der Eltern? Als sich die Arbeiter der Waldorf-Astoria Zigarettenfabrik nach einem politischen Vortrag Steiners mit der Frage an ihren Chef wandten, ob er eine freie Schule für ihre Kinder einrichten könne, übernahm Steiner sofort die Leitung. Die erste Waldorfschule war eine Initiative nicht-anthroposophischer Eltern! Sie ermöglichte Rudolf Steiner, die Ergebnisse seiner dreißigjährigen anthropologisch-anthroposophischen Forschung in eine Pädagogik münden zu lassen, die wiederum den Weg zum freien, verantwortungsbewussten Menschen in den Mittelpunkt aller einzelnen Unterrichtsvorschläge stellt – bei den Lehrern, bei den Schülern und bei den Eltern. 

PS: Pro Jahr wird für jeden Waldorfschüler der Gegenwert eines Eisbechers (€ 5,50) zur Finanzierung der erziehungskunst aufgewendet. Dafür steht jeder Familie jeden Monat ein Exemplar dieser Zeitschrift zu. (Im Handel kostet ein Heft € 4,90.) 

Henning Kullak-Ublick, Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, seit 1984 Klassenlehrer in Flensburg, Aktion mündige Schule (www.freie-schule.de)