Ich sehe dich

Henning Kullak-Ublick

Nach seinem Signal fassten die Kinder sich alle an der Hand, liefen zu dem Baum, bildeten einen Kreis um ihn herum und ließen sich die Früchte gemeinsam schmecken. Als er sie fragte, warum denn niemand die Früchte für sich hätte gewinnen wollen, antworteten sie »Ubuntu«, was soviel bedeutet wie »Ich bin, weil wir sind und wir sind, weil ich bin.«

Liebe Erstklässler, liebe alle anderen Kinder und Jugendliche, liebe Eltern, liebe Lehrer und liebe Mitarbeiter: Willkommen zurück in der Schule und willkommen in einer Zukunft, die wir gemeinsam finden und gemeinsam gestalten dürfen! Von den acht Monaten, die dieses Jahr schon durchwandert hat, waren die allermeisten von einem Thema beherrscht: Covid-19 und den Maßnahmen, die zum Schutz vor diesem Virus beitragen sollten, gleich, ob man sie nun gut oder schlecht fand. Beim Schreiben dieser Zeilen ist es unmöglich, schon zu wissen, wo wir sein werden, wenn Sie sie lesen, aber auf jeden Fall sind wir dafür verantwortlich, wie es weitergeht.

Wir haben ja schon reichlich Erfahrungen gesammelt. Zu den eindrücklichsten gehört zweifellos das »Social Distancing«, das unsere Gesichter verdeckt, unsere Berührungen auf das notwendigste Minimum reduziert, zu einem Boom an Video-Konferenzen geführt und, nicht zuletzt, auch das »Distance Learning« salonfähig gemacht hat, also ein Lernen ohne unmittelbare Begegnungen. Das alles ging so und so lange gut, aber die reale körperlich-haptische Präsenz, die in einem Blick, im Klang einer Stimme oder in einem Augenblick der Stille liegt, die seelische Verbindung mit einem anderen Menschen und die Inspirationen eines offenen Gespräches kann eine solche Verknappung auf das Notwendigste nicht ersetzen. Wir wissen jetzt aus eigener, manchmal auch trauriger, Erfahrung, dass wir uns nicht nur mit den Augen sehen oder dem Gehirn verstehen, sondern dass unser ganzer Körper ein Resonanz- und Wahrnehmungsorgan, aber auch ein Instrument ist, durch das sich unser Innerstes offenbaren kann.

»Ey, mein Body, Du und ich, Hey, wir lassen uns nicht im Stich!« singt Udo Lindenberg auf seine alten Tage und bedankt sich bei seinem Körper für alles, was der so mitgemacht hat. Am anderen Ende des Altersspektrums stehen unsere Kinder, die sich diesen Freund, dieses Instrument erst nach und nach zu eigen machen, indem sie ihn bewohnen, ihn bewegen, durch ihn die reiche, äußere Welt erfahren, die sich über ihre Sinne erschließt. Und das alles in der Begegnung mit anderen Menschen, mit anderen Kindern.

Wir wissen alle, wie es ist, von einem anderen Menschen wirklich gesehen zu werden. »Ich sehe dich« ist eins der stärksten Heilmittel überhaupt. Die Post-Covid-Schule entsteht durch die Begegnung von Hand zu Hand, von Herz zu Herz, von Geist zu Geist: »Ubuntu«.