Mittendrin

Henning Kullak-Ublick

Was hat diese riesige Resonanz ausgelöst? Worum ging es hier eigentlich, abgesehen von der ohnehin stattfindenden Dauer-Empörung, die, wenn Sie diese Zeilen lesen, längst schon wieder anderswo angedockt hat?

Während ich schreibe, sind es nur noch wenige Stunden, bis das Jahr 2019 beginnt, ein Jahr, in welchem sich viele epochale Ereignisse zum hundertsten Mal jähren, von der ersten Wahl, bei der Frauen deutschlandweit wählen und gewählt werden konnten, vom Bauhaus-Impuls, dem ersten Atlantik-Flug bis zum Versailler Friedensvertrag und zur Weimarer Verfassung. Aber während Europa sich 1919 noch aus den Trümmern des ersten hochtechnisierten, von nationalistischem Großmachtstreben ausgelösten Krieges erhob, legte es mit dem Versailler Vertrag bereits die Grundlage für die nächste Katastrophe.

In dieser Zeit der Umbrüche, Aufbrüche und Hoffnungen gründete Emil Molt eine freie Schule für die Arbeiter seiner Waldorf Astoria Zigarettenfabrik und bat Rudolf Steiner, die Leitung zu übernehmen. Daraus entstand eine Zusammenarbeit, für die der Ausdruck »epochal« ganz sicher nicht zu groß gewählt ist. Heute gibt es weltweit tausende Waldorfschulen und -kindergärten, die unter den unterschiedlichsten politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen Umgebungen für junge Menschen zu schaffen versuchen, in denen sie ihr Menschsein entdecken und entfalten können. In der Begegnung mit anderen Menschen, mit der ganzen Vielfalt der Welt und mit ihrem eigenen Rätsel sollen sie erfahren, dass es auf sie ankommt, weil jede ihrer Taten wirkt, weil sie ihre Gefühle zu Wahrnehmungsorganen für andere erweitern können und weil sie mit ihrem Denken die Wirklichkeit erreichen.

Mit diesen Gedanken zurück zum Anfang. Aus der Empörung können wir einiges lernen. Zuerst: Wir haben längst eine Diskurskultur, bei der emotional polarisierte Meinungen die Auseinandersetzung mit kontroversen Argumenten ersetzen. Das lässt sich wunderbar für Manipulationen aller Art nutzen und auf diesem »sozial medial« tausendfach verstärkten Ticket fährt auch die AfD, die vor nicht viel zurückschreckt, wenn es ihr nur Wähler zutreibt. Daher volles Verständnis für die interne Debatte dieser Schule!

Aber die Empörung entzündet sich auch an unserem eigenen Anspruch: »Waldorfschulen«, sagen wir, »stehen allen Kindern offen.« Um die geht es und daran müssen wir uns messen lassen, auch wenn es wehtut. Natürlich gibt es Ausschlussgründe, wenn beispielsweise die Schulordnung massiv verletzt wird. Aber keine Kinder mehr von politisch Andersdenkenden? Wo ziehen wir die Grenzen? Wo stehen wir mitten in diesem gesamtgesellschaftlich ungelösten Konflikt? Darüber müssen wir miteinander reden, bald. Damit 2019, unser Jubiläums­jahr, Bewusstsein schafft und unsere Kinder sehen, dass sich die Mühe lohnt.