Ohne Orte

Henning Kullak-Ublick

Von Zeit zu Zeit stelle ich mir vor, wie es einem Menschen ginge, der aus meinem Geburtsjahr 1955 direkt in das Heute katapultiert würde. Wie würde es sich beispielsweise anfühlen, überall von Menschen umgeben zu sein, die, statt miteinander zu sprechen, laute Selbstgespräche führen und dabei mit ihren Fingern auf irgendwelchen blinkenden Taschenspiegeln herumtippen? Wie stünde es mit Punkfrisuren, Rastazöpfen, grünen Haaren, Piercings oder zerrissenen Hosen in sündhaft teuren Geschäften? Warum hängen so vielen Leuten weiße Kabel aus den Ohren? Warum werden Männer und Frauen immer getrennt angesprochen?

Hat es jemals zuvor eine Zeit gegeben, in der Eltern mittels der Ortungsfunktion von Mobiltelefonen auf den Meter genau wissen können, wo sich ihre Kinder gerade aufhalten und in der es zugleich immer schwerer wird, Orte zu finden, an denen sie überhaupt unbeaufsichtigt einfach Kinder sein können? Wie viele Kinder können ihre Wohnung gar nicht alleine verlassen, weil es auf der Straße einfach zu gefährlich ist? Wo sind die Orte, an denen sie ihre Kraft erproben, ihre Sinne schärfen, ihre Widerstandskraft stärken und ihre soziale Intelligenz entwickeln können?

Der Jugendpsychiater Michael Winterhoff warnt davor, eine ganze Generation von Kindern in die soziale Verelendung zu treiben. Zu den Hauptursachen zählt er die fehlenden Beziehungen zu Erwachsenen, an denen sie sich orientieren können und die fehlende Lebenssicherheit der Erwachsenen, die selber ständig im »Katastrophenmodus« leben und oft nur noch reagieren, statt den Kindern Sicherheit vorzuleben und vernünftige Grenzen zu setzen. Kindergärten und Schulen können solche Orte sein – und müssen solche Orte werden, wenn wir nicht eine ganze Generation verlieren wollen. Ihnen sind Aufgaben zugewachsen, die weit über das hinausgehen, was man bisher unter Schule verstand. Sie müssen Lebensräume werden, in denen die Kinder in verbindlichen Beziehungen mit Erwachsenen und den anderen Kindern ein echtes Leben führen, in dem wirkliche Dinge passieren, die ihren Wert in sich selbst oder in ihrem Nutzen für andere tragen. Die Zukunft dieser Generation wird sich nicht an einem curricular festgelegten Wissen entscheiden. Viel wichtiger ist, wie es erworben wurde: Wurden die Kinder und Jugendlichen persönlich gefordert und mussten ihren Willen anstrengen? Mussten sie gleich alles wissen oder durften sie auch mit ihrem Herzen denken? Konnten sie sich während des Lernens als schöpferische Menschen erleben, von deren Handlungen etwas abhing? Was tun sie für die Gemeinschaft, der sie angehören?

Die Aufgaben für Erzieher und Lehrer sind so groß und umfassend geworden, dass sie mehr denn je darauf angewiesen sind, in einer Atmosphäre der Freiheit und des Vertrauens mit den Kindern arbeiten zu können. Das ist durchaus als politische Forderung gemeint, aber es betrifft auch den Alltag an jeder Schule und in jedem Kindergarten. Machen wir unsere Lehrer und Erzieher stark! Dann hat unser Zeitreisender etwas zum Staunen!

Henning Kullak-Ublick, von 1984 – 2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, Aktion mündige Schule (www.freie-schule.de)