Pferdewechsel 2021

Henning Kullak-Ublick

Je mehr ich mich gegenwärtig dem Wunsch hingebe, er möge wenigstens für 2021 recht behalten, umso vernehmlicher raunt mir eine Stimme zu, dass trotzdem der Kutscher bestimmen muss, wohin die Pferde laufen. Oder fliegen.

»Mein Pferd erkennst du an den Flügeln: Einst trägt es mich, doch erst muss ich es zügeln«, schrieb ich einmal einem Zweitklässler ins Zeugnis, der vor Ideen nur so platzte, aber noch nicht so recht dahintergekommen war, dass es jemanden brauchte, der sie auch verwirklicht, zum Beispiel ihn.

Oder uns. 2020 war ein Jahr der Enge, räumlich, seelisch und oft genug auch geistig. Ein guter Grund, am Schicksalsrad zu drehen und Pferde auszuwählen, die Weite, Schönheit und Begegnungen verheißen. 2020 haben wir viel gelernt über Lernen auf Abstand und digitale Technologien, über die Einsamkeit und das Aufbrechen alter Gewohnheiten, über den Grad der Selbstständigkeit, mit dem sich unsere Schüler:innen Aufgaben stellen und lösen können – und nicht zuletzt über uns Erwachsene als Navigatoren und Kapitäne im Sturm. Zersplitterung war ein Schlüsselwort. Sie traf das gemeinschaftliche Lernen in einer vertrauten Umgebung, legte Schwächen von allzu lang tradierten Formen bloß, zog Risse durch Kollegien und Familien, zeigte aber auch, welche Lernwege stärker sind als ein Virus, weil sie inspirieren und zur Eigenaktivität aufrufen.

Zurück? Das wäre soooo langweilig – wohin die Kutsche also lenken? Waldorfschule versteht sich als »einheitliche« Schule durch alle Klassenstufen hindurch. »Einheitlich« ist aber nicht gleich »kollektiv«: Der Verzicht auf Selektion braucht die Differenzierung wie die Gemeinschaft das Individuum. Vor allem aber bedeutet »einheitlich«, die zwölf oder dreizehn Schuljahre in ihrer Entwicklung, ihrem inneren Zusammenhang, zu verstehen. Was hat die Spiegelung am Kreis in der zweiten Klasse mit der Projektiven Geometrie in der Oberstufe zu tun? Oder die Ackerbauepoche in der dritten mit Wirtschaftskunde und Physik? Oder die indirekte Rede in der sechsten Klasse mit der Fähigkeit, genau zu beobachten? Oder die Eurythmie mit der Wahrnehmung komplexer Zusammenhänge im Sozialen? Oder der handwerkliche Unterricht mit lebenspraktischer Intelligenz? Wir werden die Zersplitterung nur heilen, wenn wir mit einem neuen Blick auf die Zusammenhänge, Spiegelungen und methodischen Verwandlungen der Fächer durch die verschiedenen Alters- und Jahrgangsstufen schauen. Wie gelingt der Weg von der Erfahrung bis zur Erkenntnis und zum verantwortlichen Handeln? In jeder Unterrichtsstunde und im Verlauf der Kindheit und Jugend? Wofür sonst ist Schule denn da? Auch deshalb sollten unsere Oberstufenschüler:innen in die Epochenplanung und Organisation des Schullebens eingebunden werden, klassenübergreifend, fächerübergreifend, medienübergreifend. Gute Reise 2021!