Spielzeit

Henning Kullak-Ublick

Beim Bäcker, bei der Post und sogar an der Bushaltestelle, obschon dortselbst in kontinentalem Durcheinander. Denn während mir die Verantwortung für den Verlauf der Dinge kurz mal aus der Hand genommen wird, bekomme ich: Zeit. Zum Beispiel vorgestern beim Bäcker. Unsere sonntäglich männer­dominierte Schlange reichte bis auf den Bürgersteig und um die nächste Ecke herum, unsere Blicke waren kollektiv auf die vorn erahnten Brötchen ausgerichtet und kurz nur schweiften sie zu Neuankömmlingen, um sie auf die hinteren Ränge zu verweisen.

Während sich unsere Prozession schweigend voranschuckelte, sah ich zwei Kinder, die auf dem Bürgersteig mit vier gar schauerlichen Weltraum-Plastik-Monstern spielten. Als ich mich gerade für die erste Feuersalve, mit denen sich die Ungeheuer gegenseitig vernichten würden, wappnete, kam ein gelber Linienbus ins Spiel, auf dessen Dach sich die vier Monster brav niederließen, Fahrkarten kauften, aus- und wieder einstiegen, erneut bezahlten und immer im Kreis fuhren. Die Kinder spielten völlig vertieft mit dem, was da war und verwandelten es in alles, was sie brauchten. Sie hatten Zeit.

Haben unsere Kinder noch Zeit? Oder auch nur in der Schlange beim Bäcker? Wenn man Kinder am Strand beobachtet, spielen sie stundenlang mit dem Wasser und dem Sand, ohne sich auch nur eine Sekunde zu langweilen. Kleine Kinder bleiben bei jeder Pfütze stehen, um zu spielen. Wenn es nicht so einen philiströsen Beiklang hätte, könnte man sagen, dass Spielen die eigentliche Arbeit der Kinder ist. Also drehe ich es lieber um: Nur wer spielen kann, kann auch sinnerfüllt arbeiten. Oder, mit Friedrich Schiller: »Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.«

Warum glauben wir heute so oft, dass man die Kinder rund um die Uhr mit wertvollen pädagogischen Anregungen versorgen muss? Weil das Spielen Zeitverschwendung ist? Oder weil sie schon im Kinderwagen »lernen« müssen? Kürzlich fiel mir ein bemerkenswerter Satz des Göttinger Hirnforschers Gerald Hüther in die Hand: »Das Schulsystem der Nationalsozialsten hatte nur im Sinn, gute Nazis hervorzubringen, das der Kommunisten wollte Sozialisten hervorbringen und das der Industrienationen will Konsumenten hervorbringen.« Ist es das? Dürfen unsere Kinder keine Langeweile mehr erleben, weil wir selbst verlernt haben, aus Langeweile – lange Weile zu erschaffen, in der sich das Ungeplante, Eigene, überhaupt erst zeigen kann?

Zeit muss keine Rendite abwerfen, sie ist ein reicher Innenraum, der nur hohl und leer wird, wenn wir das Spielen verlernt haben. In wenigen Jahren werden uns die Maschinen so viel Arbeit abnehmen, dass es mehr als jemals zuvor darauf ankommen wird, ob wir unser Menschsein und In- der-Weltsein schon als Kinder spielend entdecken durften. Denn nur wer spielen kann, wird verstehen: Wer Arbeit kennt und sich drückt, der ist ver-rückt.