Sterntaler

Henning Kullak-Ublick

In der sich eine Partei »Alternative« (f.D.) nennen darf, obwohl sie vor allem ablehnt, was ist? In der ein Donald Trump zum Präsidentschaftskandidaten der immer noch größten Supermacht ernannt werden konnte, gerade weil er eine nicht endende Kette von Lügen und Beleidigungen ausspuckt und die Grenzen zwischen einer TV-Show und dem tatsächlichen Leben endgültig aufgehoben hat? In der die Verneinung bis zum Selbstmordattentat getrieben werden kann?

Nein-Sagen-Können ist ein Kernbestandteil unserer individuellen Freiheit, sei dies in der Selbsterziehung, im Widerstand gegenüber Machtmissbrauch, als Schutz der Privatsphäre oder auf der Suche nach der Wahrheit. Aber es ist immer nur der Ausgangspunkt. Wird es zum Selbstzweck, verliert es seine befreiende Kraft, wird destruktiv und führt entweder in die Depression oder in die Scheinwärme einer kollektiven Verneinung des »Anderen« und wird damit zur leichten Beute der Verführer mit den einfachen Antworten.

Diese wirken, weil sie sich direkt an die Unzufriedenheit der Menschen wenden und den Feind, der die Schuld an allem trägt, immer irgendwo »da draußen« ausmachen, sei es bei »denen da oben«, den Linken, Reichen, Zuwanderern, Amerikanern oder bei Jérôme Boateng, wenn er gerade nicht für Deutschland spielt. Sie appellieren ans Gefühl.

Nun sind aber ausgerechnet die Gefühle ein weiterer Kernbestandteil unserer Freiheit: Ohne sie gäbe es keine Musik, keine Bilder, keine streichelnde Hand, keinen liebevollen Blick, keine Empathie, keine Verantwortung. Nur: Gefühle brauchen einen Gärtner, sonst verwildern sie. Dieser Gärtner ist unser individuelles Ich, und das braucht mindestens eine ganze Kindheit und Jugend, um die Gefühle zu Organen werden zu lassen, die nicht nur die eigene Befindlichkeit, sondern den, die oder das Andere auch von innen sehen können.

Gefühle brauchen Nahrung, wie unser Leib Essen, Trinken, Luft und Wärme braucht, sonst verkümmern sie. Bekommt der Leib, was er braucht, im rechten Maß, fühlt er sich wohl. Unsere Seele braucht neben der leiblichen aber noch eine andere Nahrung, die sie rein innerlich er­leben kann. Diese speist sich aus Bildern, Gefühlen und Gedanken, die sich ein Kind beim Lauschen von Märchen und Erzählungen bilden kann, die es erfährt, wenn es seine Phantasie gebraucht, jene Zauberin, die den Gedanken erst ihr Leben einhaucht.

Erzählen wir uns und unseren Kindern Geschichten! Sie öffnen die Fenster, welche einfache Antworten vernageln. Wenn wir uns erzählen, wo wir als Menschen hinwollen, ist das eine wirksame Waffe gegen das dumpfe Vereinfachen. Das entbindet uns nicht von der Pflicht, den Neinsagern ein »Nein« entgegenzuhalten. Aber haben Sie in diesem Jahr schon einmal den Sterntaler der Brüder Grimm erzählt? Vielleicht liegt darin ja die Antwort.

Henning Kullak-Ublick, von 1984 – 2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen, den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners und der Internationalen Konferenz der Waldorfpädagogischen Bewegung – Haager Kreis.