Warum wir keine Kopierer sind

Henning Kullak-Ublick

»Unser Begreifen ist Schaffen«, schrieb der Dichter Christian Morgenstern. Kann umgekehrt, wer nicht schafft, auch nicht begreifen? Unmittelbar nach ihrer Geburt beginnen die Neugeborenen, sich lauschend, später babbelnd und zuletzt bewusst artikulierend in ihre Muttersprache einzuleben, bis sie nach einiger Zeit ihr eigenes Denken an ihr entzünden können.

Kinder kommen also als Lerngenies zur Welt, die permanent nachahmen, nachschaffen und schließlich begreifen. Wie kommt es nur, dass ihnen diese Lust am Lernen oft vergeht, selbst da, wo sich doch eigentlich alles ums Lernen dreht: in der Schule?

Vielleicht liegt es an einem riesigen Missverständnis, das mit der zeitgleichen Verbreitung der allgemeinen Schulpflicht und der Industrialisierung zusammenhängt und noch bis heute unser Bild von Schule prägt: Damals wurde der Mensch immer mehr zu einem Produktionsfaktor unter anderen und entsprechend war die Schule vor allem für die Weitergabe eines vorgefertigten Wissens zuständig, das den Schülern, nach sozialem Status dosiert, »eingetrichtert« wurde.

Durch unser Internetzeitalter ist Wissen inzwischen zu einem Gut geworden, das in fast unbegrenzter Menge zur Verfügung steht und, wie Wikileaks zeigt, allgemein zugänglich geworden ist, ganz gleich, wie es zustande gekommen ist und was damit passiert. Es wird immer offensichtlicher, dass nicht mehr die Menge, sondern die Auswahl und die Qualität unseres Wissens darüber entscheiden, wie wir mit unserem Leben und mit den Fragen, die unsere Zeit an uns stellt, zurechtkommen.

Ein Wissen, das jederzeit irgendwo abgerufen werden kann, ist bestenfalls nützlich, schlimmstenfalls zerstörerisch, aber in jedem Fall darauf angewiesen, dass der Nutzer es in einen Sinnzusammenhang stellt. Dadurch wird Wissen erst produktiv. Es ist daher alles andere als gleichgültig, wie wir unser Wissen erwerben: Sind wir bloße Kopierer oder können wir Zusammenhänge herstellen? Sind wir Produktionsfaktoren oder Gestalter?

Der Weg in die Freiheit führt über die Nachahmung: Unsere Aufmerksamkeit wird Handlung und schließlich zum Erfahrungswissen. Sogar Erwachsene ahmen beim Zuhören jedes Wort mit winzigen Muskelbewegungen nach, noch bevor es ihr Bewusstsein erreicht: Wir tanzen nicht nur unsere Namen, sondern jedes gesprochene Wort, um es überhaupt zu begreifen. Erfahrungswissen ist niemals isoliert, sondern immer zugleich Welt- und Selbsterkenntnis. Wenn Lehrer und Schüler durch ihre Tätigkeit zugleich Lehrende und Lernende sind, kann die produktive Atmosphäre entstehen, die Wolf Singer, Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main, mit den Worten auf den Punkt brachte: »Das Gehirn braucht keinen Vorstandsvorsitzenden« – sondern, so könnte man hinzufügen, eine so lebendige Vielfalt an Umgebungen, dass jedes Kind etwas findet, an dem es seine Aufmerksamkeit entzünden kann.

Rudolf Steiner zeigte den Lehrern viele Wege, ihre Aufmerksamkeit für die Schüler lebendig werden zu lassen. Diese Aufmerksamkeit sollte nach seinem Willen die Basis für ein Lernen in Freiheit werden. Denn so entsteht »Erziehungskunst«. 

Henning Kullak-Ublick, Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, seit 1984 Klassenlehrer in Flensburg, Aktion mündige Schule (www.freie-schule.de)