Wie ein Dieb in der Nacht

Henning Kullak-Ublick

So beginnt ein Gedicht von Novalis, der 1772 als Friedrich von Hardenberg auf die Welt kam und bereits mit 29 Jahren starb. Zwei Dinge gehen mir in der Vorweihnachtszeit durch den Sinn, wenn ich diese Zeilen lese: Geben wir unseren Kindern noch die Möglichkeit, die »Gabe« ihres Leibes wirklich zu ergreifen? Und wie geht es den Leibern und Seelen jener Kinder, die auf der Flucht sind und nach den neuesten Zahlen der UNO-Flüchtlingshilfe fast die Hälfte der 70,8 Millionen Flüchtlinge weltweit ausmachen? Geben wir unseren Kindern den Raum, sich in ihrem Leib wirklich zu beheimaten – oder bleibt er ihnen fremd? Und was ist mit jenen, die unbehaust und unbeschützt sogar aus ihrer Heimat fliehen müssen? Wie die Heilige Familie in der Weihe-Nacht? 

Die Weihnachtszeit und der ihr vorausgehende Advent (die »Ankunft«) sind – wir alle erleben dies oder erliegen hier und da gar selbst der Versuchung – zu einer Konsumorgie verkommen, die jedes gesunde Maß verloren hat. Doch was suchen wir eigentlich in diesem ganzen Zeug, das über uns ausgeschüttet und gehorsam von uns verteilt wird? Im Namen eines Kindes, dessen Licht die ganze Welt erhellt? Suchen wir nicht eigentlich dieses Kind – in der Welt, in uns? Halten wir nicht Ausschau nach seinem Licht, seiner Liebe? Abermillionen farbig funkelnder LED-Lämpchen machen zwar die Nacht zum Tag, nur: Wird es davon – licht und warm?

Was wir in diesem irrwitzigen Übermaß Jahr für Jahr suchen, ist längst schon hier. Nur finden werden wir es nicht, solange wir uns vor der Stille, der Nacht, dem Ungewussten, das erst noch werden will, fürchten. Wir finden es im Antlitz unserer Mitmenschen, in den Augen unserer Kinder, im Verstehen des Ganz-Anderen. 

Das ist, was kleine Kinder tun: Sie leben mit ihrer Seele in den Seelen der Menschen, die sie umgeben. Mit ihren Händen, ihren Beinen, ihrem ganzen Leib tun sie mit, was um sie herum geschieht. In dieser vollkommenen Hingabe an die Welt leben und lernen sie von morgens bis abends – wenn es etwas zum Mittun gibt und ihr Sein im Sein nicht von dem Haben, das auf sie geschüttet wird, verschüttet wird. Es ist an uns, ob sie etwas der Nachahmung Wertes vorfinden, sich dreckig machen dürfen, der Natur und ihrer Kraft spontan und unbeaufsichtigt begegnen können, ob ihre Phantasie aus Steinen, Stöcken und Sternen große kleine Welten bauen kann und ob sie die Geborgenheit der Stimmen ihrer Liebsten oft genug zwischen all dem technischen Zauberzeug, das sich zwischen uns und sie, zwischen sie und die Welt stellt, hören können. Wie wir den Millionen fliehenden Kindern helfen können, weiß ich nicht, nicht in dieser Zahl. Aber wenn es an unsere Türe klopft »wie der Dieb in der Nacht« (Thess. 5,2), werden wir es wissen, werde ich es wissen – eigentlich.