Wo ist das Kind?

Henning Kullak-Ublick

Ach könnte nur dein Herz zu einer Krippe werden,
Gott würde noch einmal ein Kind auf dieser Erden.

Angelus Silesius

Rhythmus ist eine der stärksten kulturbildenden Kräfte, die es überhaupt gibt. Aus gutem Grund eröffnete Rudolf Steiner seine pädagogischen Grundlagenvorträge, indem er über das Atmen und den Schlaf sprach. Während sich der Mensch über den Atem mit der Außenwelt verbindet, ver­arbeitet er während des Schlafes seine Erlebnisse in der geistigen Welt und trägt die Ergebnisse dieser Arbeit beim Erwachen in das Tagesleben hinein. Wie fruchtbar es für einen lebendigen Unterricht und die gesamte pädagogische Praxis ist, dieser im Rhythmus wirkenden Wechselbeziehung der geistig-seelischen und der körperlichen Existenz des Menschen nachzuspüren, ist für Waldorflehrer tägliche Erfahrung.

Was für den einzelnen Menschen gilt, hat in den Jahresfesten aller bedeutenden Kulturen eine Entsprechung, wenn in den äußeren Naturrhythmen geistige Wirksamkeiten gefeiert werden. Unser Weihnachtsfest, das Fest des Lichtes, feiern wir in der dunkelsten Zeit des Jahres. Im Mittelpunkt steht die Geburt eines Kindes, das nachts, in tiefster Armut und vollkommen schutzlos zur Welt kommt. In den Geburtsgeschichten aus dem Lukas- und Matthäusevangelium finden sich hier Hirten, dort Könige ein, begleitet von Armut, Flucht und Bedrohung. Beide Geschichten handeln aber von Verheißung, Hoffnung, Erwartung und Erlösung.

Seit Jahrhunderten wurden diese Empfindungen durch die Adventszeit hindurch vorbereitet und geweckt, bis sie in der nächtlichen Geburt des Kindes kulminierten. Wo aber finden wir dieses Kind heute, zweitausend Jahre nach der Zeitenwende? Wir finden es im Zentrum unseres eigenen Wesens. Es lebt an jenem Ort, von dem aus wir uns inmitten eines zerrissenen, gefährdeten und reizüberfluteten Lebens zurechtfinden müssen; von dem aus wir die Welt – und uns selbst – wahrnehmen, erkennen und verändern können. Das Kind ist unser noch junges und gefährdetes Ich, schutz­bedürftig wie die Lampedusa-Flüchtlinge, die, während ich diese Zeilen schreibe, in der Hamburger St.-Pauli-Kirche ausharren, um nicht abgeschoben zu werden. Es lebt in jedem Menschen. Aber es obliegt uns selbst, mit seiner Hilfe Mensch zu sein.

Wir finden es in jedem Kind, rein, unfertig und erwartungsvoll. Wenn wir seine Kraft der Hoffnung und Erwartung zum Weihnachtsfest mit dem gigantischen Konsumangebot der Weihnachtsindustrie zuschütten: Gleichen wir dann nicht dem Wirt aus dem Oberuferer Christgeburtsspiel, der dem Josef zuruft: »I kan von andern laitn mehr han, als von dir, du loser bettelmann! Packt’s eng ahn verzug von meiner tür, macht’s weiter mir kei unruah hier.« Schaffen wir es aber, gemeinsam mit unseren Kindern einen Innenraum zu schaffen, in welchem sich die Seelen begegnen können, beginnt ein Licht zu leuchten, das ein Leben lang leuchtet.

Henning Kullak-Ublick, von 1984-2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, Aktion mündige Schule (www.freie-schule.de)

PS: Geschenke sind etwas Wunderbares!

PPS: Noch einmal Angelus Silesius:

Ich bin Gotts Kind und Sohn. Er wieder ist mein Kind:
Wie gehet es doch zu, dass beide Beides sind!