Starkes Gretchen

Sebastian Jüngel

Das »Gretchen« hat viel Erfahrung mit dem »Faust«. Für die 21-Jährige Elena Conradt, genannt Lene, gehört der »Faust« zu ihrer Biographie wie bei anderen der jährliche Nordseeurlaub.

Mit vier Jahren stand Lene das erste Mal auf der Bühne des Goetheanums: Im Osterspaziergang war sie ein »Mädchen«, das von den anderen umtanzt wird. Da ihr Vater Christian Peter seit Jahrzehnten als Sprachgestalter, Schauspieler und Regisseur am Goetheanum tätig ist und unter anderem Faust und Mephisto spielte, wuchs sie mit Goethes »Faust» auf. In der letzten Inszenierung 2004 – mit neun Jahren – gab sie eine Ameise. In der elften Klasse hatte sie »Faust« im Epochenunterricht. In der 12. Klasse spielte sie an der Steinerschule Birseck eine Meerkatze und einen Part des Mephistopheles. Und erst vor Kurzem war sie am Wirtschaftsgymnasium Basel als Gretchen in »Faust I« zu sehen.

Trennung von Rolle und Privatleben

Wie geht es ihr damit, so viele Stunden auf der Bühne zu verbringen? Lene seufzt. Wenn sie aus den Proben kommt, kann es vorkommen, dass sie feststellt, dass ja draußen »sooo schönes Wetter« ist. Sie wäre gern draußen »an der frischen Luft, sei es in den Bergen oder an einem See«. Sie genießt »ruhige Stunden mit anderen« und mit ihrer Familie. Sie kümmerte sich viel um ihre jüngere Schwester. Hoppla. Tat das nicht auch Gretchen? Lene antwortet entschlossen, dass sie Bühne und Privatleben, die Rolle und den Umgang mit ihrer jüngeren Schwester, trenne. Obwohl: »Meine jüngere Schwester kam, als ich 14 war«, so erinnert sie sich. »Wenn ich mit dem Kinderwagen unterwegs war, galt ich auch schon mal als ihre Mutter.«

Wie sieht sie den Unterschied zwischen ihren Bühnenerfahrungen und dem Spielen mit professionellen Schauspielern und Eurythmistinnen auf der Goetheanum-Bühne, einer der größten Bühnen in der Schweiz? Lene ist davon nicht sonderlich beeindruckt: »Ich finde die Bühne super, finde cool, dass sie 2013/14 umgebaut worden ist, dass man Platz hat.« Aber die Akustik sei »schwierig«. Daher profitiert sie von den Erfahrungen der anderen. »Sie stellen ganz andere Fragen, als wir das als Schülerinnen und Schüler getan haben.« Es geht für sie selbst immer wieder um die Technik des Sprechens. »Ich lerne mein Sprech­organ erst richtig kennen«, sagt sie. Dafür bekommt sie Hilfe von ihren Schauspielkolleginnen und -kollegen – und von ihrem Vater. Mit ihm stand sie immer wieder auf der Bühne, nachts, wenn sie frei war, und machte Sprechübungen. Gab es das nicht an der Schule? »Nein.«

Wie war es sonst an der Waldorfschule? »Für mich waren die zwölf Jahre Waldorfschule gut – mit allen Höhen und Tiefen.« Mit dem Wechsel ans Gymnasium – in der Schweiz kann man das Abitur nicht an der Steinerschule machen – war alles neu, alles anders, unvertraut.

Was sie an der Waldorfschulzeit störte, das waren die vielen Lehrerwechsel zwischen der 7. und 9. Klasse; dass Klassenkameraden die Klasse verlassen mussten; dass sich Lehrer in das einmischten, was die Schüler im Privatleben taten. Lene hält inne und ergänzt: »Auch wenn es natürlich ein positiver Aspekt ist, wenn sich ein Lehrer dafür interessiert, wie es einem geht.« Warum sie das Abitur gemacht hat, ist Lene noch nicht klar. Sollte sie nicht bald studieren? »Ja«, sinnt sie, »aber es gibt immer etwas an der Bühne zu tun.« Lene spielt nicht nur das Gretchen, sie spricht auch im Helena-Chor mit. »Es ist sehr schwierig, sich diesen Text zu merken«, sagt sie. »Denn es gibt hier kein Reimschema.« Die Inhalte webten so hin und her, als könnten sie so oder auch anders sein.

Schauspielerische Präsenz

Lene hat die Liebe zum Theater nicht nur von ihrem Vater mitbekommen. Auch ihr Patenonkel ist Regisseur. »Ich habe viel bei ihm zugeschaut«, erzählt sie. Nach der Schule absolvierte sie ein Produktionspraktikum in der freien Theaterszene von Basel. Dort genoss sie die kreative Atmosphäre. »Es sind spezielle Leute, warmherzig und lustig«, sagt sie. »Hier habe ich ein gutes Gefühl.« Alle seien praktisch veranlagt: Wenn etwas nicht funktioniere, werde halt etwas anderes ausprobiert.

Ob ihr Berufsweg zum Theater führt, weiß Lene nicht. Der Regiestil ihres Vaters fordert sie enorm. Denn Christian Peter lässt den Schauspielerinnen und Schauspielern viel Freiraum, möchte, dass sie sich aktiv einbringen und dass durch sie die Inszenierung entsteht. Fragt man ihn, wie die Auswahl auf seine Tochter fiel, zeigt sich, dass es gar nicht so einfach ist, für solch ein Großprojekt mit über 18 Stunden reiner Spielzeit eine junge Schauspielerin zu finden. »Wir suchten ein Gretchen mit natürlicher Naivität und professioneller Erfahrung«, sagt er. Entweder fand sich keine junge Schauspielerin, die sich zwei Jahre blockieren wollte, oder das Goetheanum galt ihr als zu ideologische Spielstätte. Den Vorschlag von Andrea Pfaehler aus dem Leitungsteam, Lene als Gretchen zu besetzen, griff Christian Peter erst einmal nicht auf. Die familiäre Bindung war ihm zu eng. Letztlich hat er sich aber doch für sie entschieden.

Lene in ihrer bescheiden-interessierten Art, erzählt knapp und direkt. Gern spricht sie nicht von sich selbst – »also bringe ich es lieber hinter mich«. Und geht wieder zur Probe.

Zum Autor: Sebastian Jüngel ist Redakteur, Schriftsteller und Publizist.

Jugendtagung »Bin ich Faust?«

Die Neuinszenierung von »Faust 1 und 2« am Goetheanum wird vom 25. bis 29. Juli 2016 auch im Rahmen der Jugendtagung »Bin ich Faust?« gezeigt.