Sterntaler am Amazonas. Waldorfpädagogik im Dschungel Kolumbiens

Thomas Wildgruber

Im Schatten unter einem hohen, spitzen, mit Palmblättern gedeckten Runddach kommen sie zusammen, die kleinen Vierjährigen und die etwa Zehnjährigen. Sie kommen, um mit ihrem »Profe« zu spielen, Lieder, Verse und Bewegungen zu üben. Und dann hören sie auch noch die Geschichten der »abuela«, der Großmutter, aus dem Erzählschatz der Ticunas und malen ein Bild dazu.

Die Ticunas sind ein Eingeborenenstamm, der hier in den Weiten und Tiefen des Dschungels lebt, heute kaum mehr in der traditionellen Art. Sie haben sich angepasst an das Leben des 21. Jahrhunderts im Dorf Puerto Nariño am Oberlauf des Amazonas. Sie leben von dem, was die Erde hergibt hinter ihren Pfahlhäusern und in den Dschungellichtungen, und von den Fischen, die sie täglich aus dem Fluss holen. Die Kinder gehen in eine heruntergekommene Volksschule. Nach dem Schulabschluss haben sie kaum Aussichten auf Ausbildung und bezahlte Arbeit.

Der Puls des Lebens schlägt langsam in der tropischen Schwüle. Alles Leben hängt ab vom Fluss. Keine Straßen führen hierher, so gibt es keine Autos. Wer unterwegs sein will, muss sich mit der Machete seine Wege bahnen oder sich mit dem Kanu oder den motorisierten Booten auf den Flüssen bewegen. Diese wechseln ständig ihren Lauf und ihre Gestalt.

Der Pegel des schon hier endlos breit erscheinenden Amazonas steigt und sinkt im Jahr um zehn Meter. Auf Bitten der Stiftung Natütama (»Leben unter Wasser«) bin ich hierher gekommen, um mit jungen Erziehern aus dem Stamm der Ticunas an ihrer pädagogischen Praxis zu arbeiten. Die Stiftung, ursprünglich für die Erforschung und den Schutz der Flussdelfine und der Manatis (bis zu vier Meter lange, sehr schwere Seekühe) gegründet, engagiert sich jetzt auch für die Umwelterziehung der Kinder und die Ausbildung von Fremdenführern für die Touristen, die mehr und mehr diese Welt des Amazonas kennenlernen wollen.

Mit ihrem gestalterischen Geschick haben die Ticunas aus einer großen Menge von geschnitzten und bemalten Holzfischen und Wasserlebewesen eine Unterwasserwelt und eine Mythenwelt für Besucher aufgebaut. Strom gibt es seit Monaten nicht mehr. Die schnell hereinbrechenden Nächte können wir nur mit Kerzenlicht etwas erhellen. Ein tief in den Lehmboden eingeschnittener Bach neben meiner Hütte schwillt nach den fast täglichen Wolkenbrüchen dramatisch an und nimmt immer mehr Erde mit, bis eines Tages ein Teil der Hütte in der Luft steht. Was tun? Die Hütte wird um zwanzig Meter versetzt.

In dieser Welt, so nahe an den Mächten der Natur, fern der kanalisierten Flussläufe und der asphaltierten Straßen, noch wenig angekoppelt an den Stundentakt der Uhren, dort finde ich zarte Waldorf-Wurzeln.

Fluss, Farbe und Formenzeichnen

Diana Luz Orozco, eine ehemalige Schülerin der Waldorfschule im kolumbianischen Cali, die heute die Stiftung vor Ort leitet, hat begonnen, den Erziehern kleine Elemente der Waldorfpädagogik für ihre Arbeit mit den Kindern nahezubringen: einen rhythmischen Teil, das Geschichten-Erzählen und Bilder dazu malen. Um das für die pädagogische Praxis zu vertiefen und ein Stück ins Können zu bringen, arbeite ich vierzehn Tage lang mit diesen jungen Menschen.

Aus meinen Beobachtungen in den Spielgruppen und in einigen Unterrichtsstunden, die sie in der Dorfschule in den Fächern »Umwelterziehung« und »Pflege der indigenen Kultur« geben, entwickle ich in unseren täglichen Fortbildungen erste Grundlagen in Menschenkunde, Sinneslehre, Praxis des Erzählens indigener Fabeln und des Bildermalens. Formenzeichnen soll helfen, mehr Konzentration zu erlangen, was den Menschen in dieser amphibisch-tropischen Umwelt nicht leicht fällt. Farbtheorie auch in Worte zu fassen, ist mühsam; lieber Lachen, Späße machen und malen!

Und sie malen nach einigen Tagen mit einer ursprüng­lichen Lebendigkeit und Farbenfreude im Ausdruck. Nach einer Woche besuche ich sie in ihren Gruppen mit den Kindern. Wir reflektieren zusammen die Arbeit. Und dann lädt mich Luz Eneyda in ihren winzigen Kinder­garten zwischen duftenden Büschen und Bananenpalmen ein. Alles ist karg und einfach in dieser Holzhütte. Es sieht schon ein bisschen nach Waldorf aus und Luz Eneyda singt, spielt, kocht und bastelt mit den Kindern.

Sie träumt von einem eigenen Waldorf-Kindergarten, so wie sie ihn bei einem Besuch in der Schule in Cali erlebt hat. Wir verabreden uns, ein Märchen zu erarbeiten. Die Grimmschen Märchen sind auch hier am Amazonas bekannt!

Mit einer Reihe von Erziehern aus verschiedenen Projekten des Ortes machen wir uns an die Arbeit und entdecken die Dreigliedrigkeit in der Bilderfolge des »Sterntaler«-Märchens. Und alle malen mit Wachsmalkreiden ihr Sterntaler-Bild. So verbinden sich die Welten: alteuropäische Märchen und die Fabelwelt des Amazonas in einer kleinen Initiative für die Waldorfpädagogik.

Zum Autor: Thomas Wildgruber war von 1979 bis 2011 Klassenlehrer und Kunstlehrer für die Klassen 1 bis 8, veröffentlichte das Handbuch »Malen und Zeichnen 1. bis 8. Schuljahr«, nun auch in englischer, chinesischer und spanischer Sprache, und gibt weltweit Fortbildungen in Methodik und Kunstdidaktik.