Stichwort: Hyperaktiv
K.R. war ein hübsches Kerlchen: blitzblaue Augen, weißblonde Haarpracht und immer rot im Gesicht. Letzteres spiegelte seine normale Betriebstemperatur. Die hellen Locken standen wie ein Heiligenschein um seinen Kopf.
Im Klassenverband wirkte K.R. sich nicht sehr heilig aus. Darunter litten seine Lehrkräfte, die auch schon mal ans Rauswerfen dachten. Aber was macht so ein Kind dann allein auf dem Schulhof? Also litten sie weiter. Denn je bewegter es in der Klasse zuging – sie praktizierten ein bisweilen sehr bewegtes Klassenzimmer – desto sicherer war K. R. mittendrin, wenn er nicht gar den Kern des Wirbels bildete. Verständlich, dass er bei dieser Neigung in den Pausen sehr weit draußen war. Sein Klassenlehrer, für gewöhnlich ein Fels in der Brandung, konnte notfalls auch sehr schnell sein. Das war erforderlich, sonst wäre er bei K. R. nichts geworden. Nach jeder Pause musste man den einfangen. Die Suche wurde durch seine auffälligen Farben erleichtert, sowie durch seine Pausenkleidung: ein T-Shirt, das um seinen mageren Oberkörper herumflatterte. Egal welche Wetterlagen und Außentemperaturen herrschten, welche Kleidungsstücke Mutter oder Lehrer ihm aufdrängten, in kürzester Zeit hatte er nichts als dieses Fähnchen auf dem Leib.
Flucht nach vorne
Den meisten seiner Klassenkameraden war bewusst, dass man ihn im Auge behalten musste, weswegen man jederzeit Auskunft über seinen Aufenthaltsort erhielt. Man durfte nur nicht an den Klassenphilosophen geraten. Dieser verfiel über jede von K. R.s blitzschnellen Aktionen in derart tiefes Nachsinnen, dass er oft von der nächsten überrumpelt wurde; als denke er über dessen Schachzüge nach, K. R. spielte jedoch gar nicht Schach, sondern Ping-Pong.
So stand sinnend der Philosoph eines Tages unter einem Baum. »Wo sind deine Schuhe?«, fragte ihn sein Lehrer. »Da oben.« – »Wie sind die da hingekommen?« Der Philosoph wusste es nicht. K. R. wusste es auch nicht. Seine Handlungen waren manchmal selbst für ihn zu schnell. Die Schuhe hingen wirklich sehr hoch im dünnen Gezweig, aber K. R. holte sie bereitwillig herunter, was dem Philosophen erneut zu denken gab. K. R. war überhaupt nicht widerborstig, bloß sehr kreativ. Während der Zweitklass-Untersuchung bewies er bei Übungen zur zeitlichen und räumlichen Orientierung, Symmetrie, Körpergeografie und Lateralisation ein derartiges Ausmaß an Kreativität, dass Förderpädagogin und Schularzt ihn alsbald zum angehenden Legastheniker erklärten. Auch wiesen seine Bewegungen deutliche sensomotorische Schwächen und Reflexmuster auf, die eine unreife Gesamtmotorik anzeigten. »K.R. und eine retardierte Bewegungsentwicklung? Der ist doch der Geschickteste weit und breit!« Weder Mutter noch Lehrer konnten sich zunächst mit der Diagnose des Schularztes anfreunden. »Eigentlich«, meinte dieser, »kann er noch nicht mal richtig gehen. Bloß rennen.« »Er läuft seit dem 10. Lebensmonat«, widersprach seine Mutter. »Eben«, sagte der Schularzt. »Er hat die Flucht nach vorne angetreten und überspielt seither seine Schwächen durch Tempo. Lasst ihn die Augen zumachen und langsam rückwärts gehen, dann seht ihr, dass er eigentlich die Aufrechte nicht sicher beherrscht. Deswegen ist er auch noch wie ein Säugling seinen Sinnen ausgeliefert.«
»Wie rum geht noch mal die Drei?«
K. R.s Unvermögen, sich auf einem Papier zu orientieren, führte nicht nur zu den üblichen Zahlendrehern und Verwechslungen etwa von b, p, d, und q – er vergaß im Handumdrehen sämtliche Buchstaben. Auch die Lerntherapie besserte das zunächst nur mühsam, obgleich Bewegungstherapien seine Nachreifung unterstützten. Deshalb wurde jeder errungene Buchstabe wie ein Fest gefeiert. Und erst ganze Wörter! »Weißt du, was ich kann?«, sprudelte er eines Tages im Hereinrennen, »ich kann den Namen meiner Mutter! Hast du was zum Schreiben? Gib mal her, ich zeig es dir!« Er griff sich selbst Papier und Stift und Hastdunichtgesehn stand da RAMONA. Peinlicherweise stammte das verwendete Papier vom Schreibtisch der Pädagogin, der eigentlich tabu war und fürs Finanzamt bestimmt. Und der Stift war ihr bester Feinliner von eben diesem Orte.
»Oh, entschuldige«, sagte K. R. betreten, »das wollte ich nicht.« Der Stift war nicht mehr zu retten. Für das Papier hatte er jedoch bereits eine Idee. »Weißt du was«, schlug er eifrig vor, »da nimmst du einfach die Rückseite.«
K. R.s Förderstunden lagen für gewöhnlich direkt nach der großen Pause, gegen zehn Uhr. Selbstverständlich musste er auch von der Förderpädagogin eingefangen werden. Manchmal hatte sie allerdings Glück, und er lief ihr bereits in der Pause über den Weg. »Hallo K.R., du hast gleich Stunde bei mir«, rief sie. »Ja, prima«, erwiderte K. R. und bremste, »aber es ist noch Pause.« Das stimmte. »Komm trotzdem lieber schon mal mit«, sprach die erfahrene Frau. »Aber die Pause ist doch wirklich noch nicht zu Ende.« »Also gut«, sagte sie leichtsinnigerweise, »in fünf Minuten, wenn es klingelt, musst du aber kommen.« »Ja mach ich, geh du schon mal, ich komm dann gleich.« Geh du schon mal? Leider war K.R. auch nach zwanzig Minuten noch nicht zur Stelle. Die Pädagogin, mittlerweile doch ein wenig ärgerlich, ging auf die Jagd. Sie fand ihn in der hintersten Ecke zwischen einigen Viertklässlern, die offenbar eine Freistunde mit Fußball verbrachten. Er kam mit, wenn auch widerstrebend. »Wenn du sagst, du kommst, dann musst du auch wirklich kommen«, ermahnte ihn die Pädagogin, als sie außer Hörweite waren, »ich muss mich doch auf dein Wort verlassen können.« »Klar, musst du«, erwiderte K. R. zerknirscht. Doch dann packte es ihn derart, dass er stehen bleiben musste.
»Aber stell dir mal vor: Das waren sechs Leute!«, brach es aus ihm hervor. »Du, und, die hatten keinen Torwart!! Kannst du dir das vorstellen?! Und, du, die hätten ohne mich doch gar nicht spielen können!!«
Angesichts dieser überzeugenden Darstellung fehlten ihr schlagkräftige Gegenargumente. Da verabredeten die Förderpädagogin, der Klassenlehrer und der Schularzt eine neue Strategie. Sie mussten weg von der Ping-Pong-Methode. Billard, das war vermutlich die Lösung! K.R. brauchte eine unverrückbare Begrenzung, die zu den Spielregeln gehörte, ein klar begrenztes, übersichtliches Spielfeld. Wie auf dem Billardtisch.
Ein vielversprechender Ansatz. Unter lerntherapeutischen Gesichtspunkten jedenfalls. Er durfte nur nicht unvermittelt zu Golf übergehen.
Zum Autor: Dr. Klaus Hadamovsky ist Schularzt der Freien Waldorfschule Flensburg und betreibt gemeinsam mit seiner Frau die Praxis für Entwicklungs-Hilfe und Therapie.
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