Still werden für das Geheimnis

Henning Köhler

Kinder in Güteklassen einzuteilen, konventionelle Normen und davon abgeleitete Kategorien des Ungenügens zur Grundlage meiner Urteilsbildung und meines therapeutischen Bemühens zu machen, widerstrebt mir zutiefst. Das gibt Anlass zu Missverständnissen. So wird kolportiert, ich weigerte mich, »richtige Diagnosen« zu stellen. Aber was ist das auf dem zur Rede stehenden Arbeitsgebiet – eine »richtige« Diagnose?

Mittels standardisierter Tests subsumiert man tausende Schicksale, von denen jedes ein Universum für sich ist, unter abstrakte Überbegriffe, die für eine individuell abgestimmte pädagogische und therapeutische Entwicklungsbegleitung wenig bis gar nichts hergeben. Ich würde das eher als einen Bankrott der diagnostischen Kunst bezeichnen.

Gert Jüttemann beklagt den Trend zu einer »Psychologie ohne Seele«, die sich »immer weiter von ihrer eigentlichen Forschungsaufgabe entfernt«. Er fordert eine »Psychologie ohne Systeme«, die sich dem »tatsächlich anzutreffenden Menschen« zuwenden soll. »Qualitative Forschung«, so Jüttemann, setzt voraus, »Theorieoffenheit herzustellen, tragfähige Beschreibungen vorzunehmen, vom erlebenden Subjekt auszugehen, Alltagsnähe zu beachten, ereignis- und individuum-zentriert zu forschen, selbstreferenzielle Aspekte zu berücksichtigen« – Eckpfeiler einer »neuen Psychologie«. Diese Psychologie würde davon Abstand nehmen, den seelisch leidenden Menschen nach einer nichtssagenden funktionellen Norm zu beurteilen, was letztlich darauf hinausläuft, ihn wie ein reparaturbedürftiges Gerät zu betrachten – eine Denkweise, die im zwischenmenschlichen Raum ein tieferes Verstehen vereitelt. Das erkannte auch Janusz Korczak, neben Steiner mein wichtigster Lehrer. Deshalb schlug er mit zunehmendem Alter ganz andere Wege ein, verpflichtete sich selbst auf eine »Hermeneutik der Liebkosung«, wie Monika Kaminska schreibt. Allein dieser Ausdruck (er stammt von Emmanuel Lévinas) verrät: Wir sind auf einen veritablen Paradigmenwechsel verwiesen, der das auf Fehlerfahndung konditionierte Denken ernstlich in Verlegenheit bringt.

Die erste Begegnung mit Max, knapp acht Jahre alt. Ich habe zuvor mit mäßigem Interesse einen Stapel gutachterlicher Stellungnahmen durchgelesen: seitenlange Aufzählungen von Defiziten. Das schleppt der Junge nun mit sich herum. Entsprechend geduckt, abwehrend kommt er ins Spielzimmer.

Wie hätte sich Korczak verhalten? »Nun bemühe ich mich, meine Hand auf deinem Arm, nur mit der Wärme meines Atems zu sprechen, wie Sonnenschein im Herbst.« Ist das eine Methode? In gewisser Weise ja.

Still werden. Sich öffnen für »das aus dem Geheimnis ansprechende Du« (Martin Buber). Werft die Tests aus dem Fenster. Nehmt euch Zeit. »Erkenntnisse wachsen wie Bäume« (Korczak).

Literatur: G. Jüttemann (Hrsg.): Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland, Göttingen 2005 | M. Kaminska: Dialogische Pädagogik und die Beziehung zum Anderen, Münster 2010