Still werden für das Geheimnis
Ich bekomme hauptsächlich sogenannte verhaltensauffällige Kinder zu Gesicht und verfechte eine Art der heilpädagogischen Diagnostik, die von defektologischen Klassifizierungen absieht.
Kinder in Güteklassen einzuteilen, konventionelle Normen und davon abgeleitete Kategorien des Ungenügens zur Grundlage meiner Urteilsbildung und meines therapeutischen Bemühens zu machen, widerstrebt mir zutiefst. Das gibt Anlass zu Missverständnissen. So wird kolportiert, ich weigerte mich, »richtige Diagnosen« zu stellen. Aber was ist das auf dem zur Rede stehenden Arbeitsgebiet – eine »richtige« Diagnose?
Mittels standardisierter Tests subsumiert man tausende Schicksale, von denen jedes ein Universum für sich ist, unter abstrakte Überbegriffe, die für eine individuell abgestimmte pädagogische und therapeutische Entwicklungsbegleitung wenig bis gar nichts hergeben. Ich würde das eher als einen Bankrott der diagnostischen Kunst bezeichnen.
Gert Jüttemann beklagt den Trend zu einer »Psychologie ohne Seele«, die sich »immer weiter von ihrer eigentlichen Forschungsaufgabe entfernt«. Er fordert eine »Psychologie ohne Systeme«, die sich dem »tatsächlich anzutreffenden Menschen« zuwenden soll. »Qualitative Forschung«, so Jüttemann, setzt voraus, »Theorieoffenheit herzustellen, tragfähige Beschreibungen vorzunehmen, vom erlebenden Subjekt auszugehen, Alltagsnähe zu beachten, ereignis- und individuum-zentriert zu forschen, selbstreferenzielle Aspekte zu berücksichtigen« – Eckpfeiler einer »neuen Psychologie«. Diese Psychologie würde davon Abstand nehmen, den seelisch leidenden Menschen nach einer nichtssagenden funktionellen Norm zu beurteilen, was letztlich darauf hinausläuft, ihn wie ein reparaturbedürftiges Gerät zu betrachten – eine Denkweise, die im zwischenmenschlichen Raum ein tieferes Verstehen vereitelt. Das erkannte auch Janusz Korczak, neben Steiner mein wichtigster Lehrer. Deshalb schlug er mit zunehmendem Alter ganz andere Wege ein, verpflichtete sich selbst auf eine »Hermeneutik der Liebkosung«, wie Monika Kaminska schreibt. Allein dieser Ausdruck (er stammt von Emmanuel Lévinas) verrät: Wir sind auf einen veritablen Paradigmenwechsel verwiesen, der das auf Fehlerfahndung konditionierte Denken ernstlich in Verlegenheit bringt.
Die erste Begegnung mit Max, knapp acht Jahre alt. Ich habe zuvor mit mäßigem Interesse einen Stapel gutachterlicher Stellungnahmen durchgelesen: seitenlange Aufzählungen von Defiziten. Das schleppt der Junge nun mit sich herum. Entsprechend geduckt, abwehrend kommt er ins Spielzimmer.
Wie hätte sich Korczak verhalten? »Nun bemühe ich mich, meine Hand auf deinem Arm, nur mit der Wärme meines Atems zu sprechen, wie Sonnenschein im Herbst.« Ist das eine Methode? In gewisser Weise ja.
Still werden. Sich öffnen für »das aus dem Geheimnis ansprechende Du« (Martin Buber). Werft die Tests aus dem Fenster. Nehmt euch Zeit. »Erkenntnisse wachsen wie Bäume« (Korczak).
Literatur: G. Jüttemann (Hrsg.): Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland, Göttingen 2005 | M. Kaminska: Dialogische Pädagogik und die Beziehung zum Anderen, Münster 2010
Sabine Mänken, Frankfurt, 28.01.16 20:01
Ich bin Herrn Köhler zutiefst dankbar für seinen Artikel. Jedes Wort berührt mich im Herzen. Dann kann ich es öffnen und verstehen.
Mein Ex-Mann wollte unseren Sohn in die Psychiatrie einliefern. Weil er die Schule "verweigerte" und nicht "funktionierte". In seiner getakteten Welt, in der die täglichen Aufträge und Einkommen das Leitbild eines erfolgreichen Lebens darstellen, kann man dieses Verhalten vielleicht sogar nachvollziehen:
Wie wollen wir diesen Spiegel nicht funktionierender Kinder aushalten, wenn wir selbst so funktionieren müssen? Dass hinter diesen Phänomenen die Geschichten von Kinderseelen stehen, die zwischen Überforderung, Unterforderung so ihre Not äußern, nicht wahrgenommen zu werden, müssen wir erst denken lernen. Das funktionalistische Zergliedern von "Fehlverhalten" in Symptome mag die Sehnsucht nach der Sicherheit eines verstandesorientierten Weltbildes aufzeigen, die Seelen unserer Kinder werden davon nicht heil. Was HEILSEIN in der tiefen Annahme dessen, was ist bedeutet, haben wir in der Ausweitung eines zunehmenden materialistischen Gesundheitssystems verlernt.
In verbindlich wiederholten Gesprächen, die meinem Sohn den freien Raum ermöglichten, auszusprechen was ist, hat er wieder Vertrauen gefasst und ist zu mir gezogen. Solche "Begegnungsgespräche" kenne und erforsche ich in meiner täglichen Praxis als Biographieberaterin. Für diese Kunst ist es NOT-wendig, das Fremde im anderen sein zu lassen. Dann werden wir heil.
Sabine Mänken, Frankfurt, Mutter von drei Kindern, Biographieberaterin und Mit-Herausgeberin des Buches "Die VERKAUFTE Mutter"
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