Stille Revolution. Zeit, sich von der vormundschaftlichen Schule zu verabschieden

Rüdiger Iwan

»Machen wir das heute wieder so, das mit dem Rumlaufen und Lesen?« Tristan schaut mich erwartungsvoll an. »Natürlich, genauso wie beim vorigen Mal«, versichere ich ihm und ernte ein strahlendes Lächeln.

Tristan geht in die fünfte Klasse der Friedrich-Schimper Real­schule in Schwetzingen, die seit diesem Schuljahr zum neuen Schultyp der Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg mutiert, wo es individualisiertes Lernen, kein Sitzenbleiben, keine Notenzeugnisse gibt. Dafür etwas, wie es das Lehrerteam unter meiner Leitung begonnen hat. Gemeinsam mit den Schülern sind wir auf die Suche nach persönlich bedeutsamen Erfahrungen der ersten Schulmonate gegangen. Schließlich hatte jeder das gefunden, was für ihn eine wichtige persönliche Herausforderung darstellte: Für den einen der neue Schulweg, für den anderen die Orientierung im Schulgebäude, für den dritten die neuen Arbeitsformen im Lernbüro, für den vierten die Tatsache, dass im Englischunterricht nur Englisch gesprochen wird. Daraus entstand eine Lerngeschichte und als weiteres Produkt der visualisierte Beleg: Jeder hatte seine Lerngeschichte noch einmal kreativ auf einer DIN-A-4-Seite als Bild gestaltet.

Dann war es so weit. Tristan und alle anderen durften herumlaufen, begutachten und lesen. Aber machen wir das am besten konkret: Stellen Sie sich vor, Sie würden so etwas mit Ihren Schülern machen. Nehmen wir an, jeder hat Produkte vor sich auf dem Tisch liegen, in unserem Fall die Lerngeschichte und den Beleg. Daneben ein leeres Blatt und Schreibwerkzeug. Die Tische stehen so, dass gleich anschließend alle Beteiligten gut um sie herum und bequem von Platz zu Platz laufen können. Sie stehen vor der Klasse und sagen zum Beispiel: »So, die Unterlagen liegen bereit. Jeder hat zusätzlich ein leeres Blatt vor sich. Schreibt oben auf das Blatt ›Rückmeldung‹: Und dann daneben euren Namen. Macht das mal eben! Gleich im Anschluss an meine Erläuterungen bitte ich euch aufzustehen, den Platz zu wechseln und euch den Beleg und die Lerngeschichte eines Mitschülers genauer anzusehen. Dann schreibt ihr eine Rückmeldung. Dafür habe ich euch hier einige Fragen an die Tafel geschrieben. Schaut kurz drauf!

  • Was hat mich angesprochen?
  • Was kann ich als Anregung mitnehmen?
  • Welchen Tipp habe ich für dich?

Sind die Fragen soweit klar? Also wenn es hier etwa heißt: Was hat mich angesprochen? Dann will ich euch damit anregen, als erstes auf das zu schauen, was euer Interesse weckt, was euch berührt, was euch positiv auffällt. – Was ihr findet, darf ruhig ›super‹‚ sein. Aber schaut auch dahinter und sagt dann genau, was ihr mit ›super‹ meint, worauf sich euer Super-Urteil bezieht: Vielleicht ist es eine Stelle in der Lerngeschichte, die euch anspricht. Oder ein Bild, ein Symbol auf dem Beleg. Vielleicht die verwendeten Farben, die Zeichnungen. Was es ist, entscheidet ihr selbst. Geht auf die Suche!

Dann noch kurz zum Ablauf: Ich denke, insgesamt nehmen wir uns eine halbe Stunde Zeit. Wer an einem Platz fertig ist, darf zum nächsten gehen, auch wenn dort noch jemand sitzt. Wartet kurz, schaut euch die Arbeiten schon einmal an. Wenn euer Mitschüler dann fertig ist, dürft ihr dort Platz nehmen und eure Rückmeldung schreiben. Am besten in Form eines kleinen Briefes: Liebe Luisa, ich habe mir gerade deinen Beleg angeschaut und finde … Und nicht vergessen! Am Ende setzt ihr eure Unterschrift unter euren Brief. Jeder soll wissen, von wem die Rückmeldung kommt. Und achtet darauf – ich werde es von außen auch tun – dass jeder von euch mindestens drei Rückmeldungen erhält. So, ich glaube, wir können starten! Es gilt wie immer im Lesesaal, dass hier ganz in Ruhe gearbeitet wird. Also ab jetzt, wenn etwas mitgeteilt werden muss: nur noch im Flüsterton!«

Die Prüfungen selbst in die Hand nehmen

Schüler lieben so etwas. Sie wollen, dass wir Lehrer heruntersteigen vom hohen Ross der Leistungsbeurteilung, auf das der Staat uns vor 200 Jahren gesetzt hat, um uns dort – als Abglanz seiner Macht – das alleinige Urteil über die erbrachte Schülerleistung zuzugestehen.

Das kann man bedauern. Das sollte man aber vor allem verändern. Am besten sofort! Und nicht darauf warten, dass der Staat die Zügel loslässt, an denen er bis heute jede Schule gängelt, in seiner strengsten Form durch das anonymisierte System der Erst-, Zweit- und Drittkorrektur im Zentralabitur. Mit der unausgesprochenen Botschaft an jeden Schüler: Du hast das Urteil über dich anzunehmen. Obrigkeitsstaat eben! Nur, dass wir heute in einer offenen Gesellschaft leben wollen. Krankheiten wie diese leben allerdings in den Gewohnheiten der Lehrer stärker fort als in den staatlich erlassenen Gesetzen. Also von hier aus, von der Lehrerpersönlichkeit aus muss der Wandel kommen. Schüler wollen ihn. Auch wenn sie es nicht sagen. Und auch nicht fordern. Auch Lehrer wollen ihn, weil sie unter Bergen von Korrekturen begraben werden, deren Abbau sie wertvolle Lebenszeit kostet und deren Herausgabe ihnen und den Schülern nichts nutzt.

Schüler begutachten Arbeiten von Mitschülern – bis zum Abitur

In einer fünften Klasse mag das angehen, aber irgendwann kommen die Abschlussprüfungen mit ihren Klausuren. Aber gerade hier sollten Sie es tun. Bis hart an die Grenze zu den Abschlussklausuren. Warum? Weil Sie sich als Lehrer entlasten und ihre Schüler effizienter vorbereiten, wenn Sie ihnen eine aktive Rolle bei der Auswertung ihrer Arbeiten geben!

Stellen Sie sich dafür Schüler einer Waldorfschule zu Beginn einer zwölften Klasse vor, die am Ende des Jahres ihre Fachhochschulprüfung absolvieren. In der Stunde zuvor ist ein Text entstanden, die erste Version eines Aufsatzes. (Es könnte genauso gut eine Aufgabe aus dem Fremdsprachenunterricht sein oder eine Mathematikarbeit.) Bis zu diesem Zeitpunkt haben die Schüler ihre Arbeiten stets nur abgegeben und vom Lehrer korrigiert zurückbekommen. Sie sind nichts anderes gewohnt, aber gleich im Anschluss an eine kurze Einführung verlassen sie das Gewohnte problemlos, um es erstmals anders zu machen als jemals zuvor. Der ungewohnte Ablauf entfaltet seinen vollen Charme. Die Schüler gehen von Tisch zu Tisch.

Still und gesammelt beugen sie sich über die Arbeit eines Mitschülers. Sie lesen, begutachten, sinnieren, schreiben. Und überspringen aus dem Stand die Hürden des bloßen Super oder Toll. Keiner, der im ausschließlich sympathischen, unspezifischen Urteilen hängen bliebe. Unmittelbar orientieren sich alle an dem, was sie auf dem Blatt vorfinden. Sie suchen Qualitäten und ganz nebenbei verinnerlichen sie, was sie bei ihrer Suche erkennen. Zum Abschluss sagen Sie vielleicht: »Eben, als Sie zurückgegangen sind zu Ihren Plätzen, nachdem Sie die Gutachten Ihrer Mitschüler gelesen haben, da habe ich so manchen schmunzeln oder gar zufrieden lächeln sehen. Bevor wir gleich in die Pause gehen: Schauen Sie noch einmal kurz zurück auf die letzte Stunde: Wie war das für Sie in der Rolle des Gutachters? Und wie war es für Sie als Empfänger von Rückmeldungen Ihrer Mitschüler? Wer möchte etwas dazu sagen?« Ungewohnt, aber interessant, von verschiedenen Mitschülern auf so Verschiedenes in der eigenen Arbeit hingewiesen zu werden. Auch erstaunlich: Wie schön ist das denn! Und wie perspektivenreich: Anregungen zur Weiterarbeit von den eigenen Mitschülern!

Statt Fehler Qualitäten suchen

So fängt er an, der Paradigmenwechsel. Aus der Leistungsbeurteilung unserer Vorväter, die heute wie damals das schulische Leben lähmt, in die Formen dialogischer Bewertung: eine stille Revolution! Leistungsbeurteilung wird in den Prozess der Entstehung von Leistung zurückversetzt, wird zur Hilfe in Lernprozessen und befähigt Schüler zur Selbstständigkeit; exakt an dem Punkt, wo Lehrer sie seit Jahrhunderten im Namen des Staates entmündigen. Der Lehrer gibt sein Monopol auf. Systematisch öffnet er den Raum für ein neues Gespräch über Schülerleistungen. Und verändert Schule substantiell.

Wie der Lehrer zum Qualitätssucher wird

Aber dann? Wie weiter? Die Schüler haben ihre Arbeiten begutachtet. Und jetzt? – Nehmen Sie wie immer die Arbeiten mit. Auf dem Nachhauseweg aber kaufen Sie sich einen grünen Stift. Den brauchen Sie, wenn Sie am Schreibtisch daheim als Qualitätensucher die Arbeiten nach gelungenen Stellen absuchen. Und lassen Sie sich überraschen, Ihre Schüler haben bereits viele solche Stellen gefunden und markiert. Wenn Sie dann ein Repertoire gelungener Stellen haben, nehmen Sie es mit in die nächste Stunde.

Und machen Sie Ihren Schülern Vorhaltungen der neuen Art. Nicht wie gewohnt mit dem höchsten Leisten! Und allem, was fehlt, um die damit verbundenen Anforderungen erfüllen zu können. Zeigen Sie ihnen stattdessen, wie gut Sie schon unterwegs sind. Bestätigen Sie Ihre Schüler, ergänzen Sie Ihre Gutachten, erweitern Sie den Blick über bereits Gefundenes hinaus. Und, wenn nötig, korrigieren Sie die Schüleransichten. Sie sind einen Schritt zurückgegangen, Sie haben Ihren Schülern einen neuen Blick auf ihre Arbeiten ermöglicht, aber der Meister des Verfahrens sind Sie geblieben.

Allerdings, es ist eine neue Art Meisterschaft, die Sie auch erst erringen müssen. Von der Fehlerfahndung zur Qualitätensuche! Das fordert das eigene »System«. Da kann es schon mal knirschen in den Gewohnheiten, ehe man die alten Muster überwindet.

Link: www.perpetuum-novile.de