Sympathie und Antipathie in der Erziehung

Monika Kiel-Hinrichsen

Elisa, vier Jahre, steht mit ihrer Mutter vor dem Kleiderschrank. Der Beginn einer allmorgendlichen Szene: »Elisa, was möchtest Du heute anziehen?«, lautet die Frage. Die Mutter bietet ihr verschiedene Sachen an, worauf Elisa mit »Nein, das nicht, … das ist blöd, … das auch nicht, … das finde ich hässlich« oder »Ich finde das Sommerkleid aber schön« reagiert. Nach einigem Hin und Her darf sie das grüne Sommerkleid nehmen, auch wenn es eigentlich draußen viel zu kalt dafür ist. Beim Frühstück geht es weiter: Elisa kann sich nicht entscheiden, ob sie Honig, Nutella oder Marmelade auf ihrem Brot haben möchte. Die Mutter wird langsam ungeduldig, unvermittelt reißt ihr der Geduldsfaden und sie schreit Elisa an: »Kannst du dich denn nicht mal entscheiden, immer dieses Hin und Her, du musst doch wissen, was du willst?« Elisa beginnt zu weinen und fällt in sich zusammen.

Die Mutter hat mit Zugewandtheit und Wohlwollen den Morgen mit Elisa begonnen. Ihr ist wichtig, dass Elisa sich möglichst selbstständig entwickeln soll, sie möchte nicht autoritär bestimmen, sondern Elisas Eigenwillen berücksichtigen. Dabei kommt es immer wieder zu Diskussionen, die bereits im dritten Lebensjahr begannen. Oft enden diese mit einem heftigen Streit, in dem der Mutter emotionale Wärme und Offenheit sich in Ärger, Ablehnung, ja Aggressionen verwandeln.

Entscheidungsfreiheit? – Nicht für das kleine Kind

Je kleiner die Kinder sind, um so weniger ist bei ihnen das Vermögen zu einer eigenen gedanklichen Überschau über Situationen oder Lebenszusammenhänge entwickelt. Kinder unter sieben Jahren fühlen sich überfordert darin, am Morgen ihre Kleidung selbst auszusuchen. Sie leben noch ganz in der Nachahmung der Erwachsenen, in ihrer Umgebung, die ihnen Vorbild sein soll. An den Erwachsenen will sich das kleine Kind spiegeln; durch Diskussionen und sogenannte freie Entscheidungen ist es überfordert.

Das Kind ist wie ein Sinneswesen mit Tentakeln, das das Gegenüber bis in die Tiefen abtastet, um sich selbst daran entwickeln zu können. Beobachtung und Nachahmung erzeugen im Kind ein Skript, das die Welt in Handlungssequenzen repräsentiert: Es sind Bilder der Menschen, die in seiner Umgebung gehandelt und ihre sozialen Abläufe untereinander geregelt haben.

Elisa hat einen großen Entscheidungsspielraum, in dem ihr die Mutter wenig Vorbild bietet, sondern sie nach Lust und Laune entscheiden lässt. Dies setzt eine emotionale Reife voraus, die Kinder erst mit dem Schulalter erreichen. Das Gefühlsleben des Klein- und Kindergartenkindes zeigt sich uns stattdessen durch die Phantasie, die mit dem ersten Selbsterleben im dritten Lebensjahr erwacht und welche wir besonders gut im Spiel beobachten können. Wie viel einfacher wäre es für Elisa, wenn die Mutter sagen würde: Heute ziehst du ein rotes Kleidchen an wie die Pilze im Wald. Hieran kann das Kind erleben, dass die Mutter Entscheidungen trifft. Allzu viele Fragen schwächen die Lebenskräfte des Kindes, die es eigentlich noch für seinen körperlichen Aufbau braucht. Erst allmählich, im vierten Lebensjahr, werden diese Kräfte frei und können nun das Spiel des Kindes durch die Kraft der Phantasie beleben. Erst um das siebte Lebensjahr, mit dem Zahnwechsel, erwacht die Verstandeskraft. Nun erst kann das Gefühlsleben heranreifen, welches die Grundlage für erste eigene Entscheidungen bietet.

Lenas Tochter war gerade fünf Jahre alt, als in der Nähe ihres Dorfes ein kleiner Wanderzirkus gastierte. Sie saßen freudig und voller Spannung in dem Zirkuszelt. Ein Schausteller richtete die kleine Manege für sich ein: Ein Nagelbrett und jede Menge Glasscherben zierten den Boden. Die kleine Anna konnte sich vor Entrüstung und Widerwillen nicht mehr halten, als der Schausteller sich auf das Nagelbrett und die Glasscherben legte. »Aber Mami, was macht der Mann dort!«, rief sie durch das kleine Zelt.

Hier wird erlebbar, wie unsinniges, das heißt für das Kind unverständliches Handeln direkt bis in den Leib und die Seele hinein wirken kann. Dieses antipathische Erlebnis hat Anna noch tagelang beschäftigt , denn im Gegensatz zu dem Bedürfnis des Kindes, sympathisch in einer sinnvoll gestalteten Umwelt mitzuschwingen, haben Erlebnisse solcher Art einen Aufweckcharakter. Antipathie macht immer wach, stellt uns in Gegensatz zu den Dingen.

Sympathie und Antipathie in der Beziehung zum Kind

Jedes Kind hat das tiefe Bedürfnis, in Beziehung zu seinen Eltern zu treten, sich bedingungslos verbunden mit ihnen zu fühlen. Eine solche Beziehung ist von Wärme, Nähe, Schutz und Fürsorge geprägt. Die Bezugsperson ist in der Lage, sich in die Bedürfnisse des Kindes einzufühlen und diese zu erfüllen. Sie schafft eine sichere Atmosphäre für das Kind, in der Klarheit, Rhythmus und Kontinuität die Grundsäulen sind. Die positive, emotionale Grundhaltung ist Zuneigung und Wohlwollen.

Doch die Realität sieht oft anders aus. Zunehmend mehr Eltern sind in der Erziehung überfordert. Kinder erleben Wechselbäder zwischen aufopfernder Hingabe und tiefster Erschöpfung, gutem Willen und harter Abgrenzung.

Erziehung aus Sympathie und Antipathie? In Deutschland werden Elternschulen hoch frequentiert (vgl. Spiegel 2007, Familienleben). Eltern müssen heute lernen, wie man sich in Kinder einfühlt, um sie zu verstehen und gut durch den Erziehungsalltag zu kommen.

Sie lernen eine Fähigkeit, die das Gegenteil von Sympathie und Antipathie ist – die Empathie!

Julia, 37 Jahre alt, hat ihre Kindheit in Wohngemeinschaften verbracht, ist Mutter von zwei Kindern (3 und 6 Jahre alt). Sie hatte als Kind ständig wechselnde Bezugspersonen, worunter sie sehr gelitten hat. Julia arbeitet halbtags als Juristin. Die Kinder waren beide in einer Krippe und sind jetzt im Kindergarten. Ihr Mann ist als Ingenieur außerhalb tätig. Er geht früh aus dem Haus und kehrt heim, wenn die Kinder im Bett sind. Eine moderne Familie.

Julia fühlt sich eigentlich seit Jahren überfordert. Sie will beruflich weiterkommen. Gleichzeitig möchte sie für die Kinder da sein – doch das ist eine Art Pflichtbewusstsein, es kommt nicht von innen. Sie kann ihren Kindern nicht wirklichen Nestschutz geben. Mit der ältesten Tochter fällt es ihr am schwersten, sie hat sich von klein auf an sie geklammert und ihr ein schlechtes Gewissen gemacht. Julia beschreibt sich selbst als manchmal »unberechenbar«. Sie bemüht sich, die Kinder viel zu loben, aber leider kommt oft nur Meckerei dabei heraus.

Wir leben heute in einer Zeit, in der die alten Werte und erzieherischen Intuitionskräfte verloren gehen, in der wir immer weniger einfach aus der Tradition heraus handeln können, sondern der Einzelne in seiner bewussten Entwicklung seiner Individualität gefragt ist. Julia ist ein Kind von 1968er-Eltern, sie hat bereits selber den Traditionszerfall erlebt. Sie spürt den Mangel an Bindungsfähigkeit und hat Sorge, diesen an ihre Kinder weiterzugeben. Erziehung aus dem »Bauch heraus«, den Emotionen von Sympathie und Antipathie ausgeliefert zu sein, macht Julia unzufrieden. Diese Unzufriedenheit wird ihr zur Triebfeder: Sie spürt, dass sie sich etwas ganz Neues erarbeiten muss, um ihren Kindern näher zu kommen.

Empathie statt Apathie

Erziehung, die sich zuviel auf das Lustprinzip stützt, bietet Kindern zu wenig emotionale Verlässlichkeit und schwächt die Eltern-Kind-Beziehung. Wenn Eltern sich aufgerieben haben in der Erziehung ihrer Kinder, sich überfordert

fühlen, verfallen sie leicht in eine Form der Apathie (Teilnahmslosigkeit): »Ist mir doch egal, sollen sie doch ohne Hausschuhe rumlaufen, Fernsehen oder eben kein Gemüse essen …« Die Apathie ist der größte Feind der Kinder, denn das bedeutet, dass Eltern den Kontakt mit dem Kind aufgeben, es sich selbst überlassen.

Nehmen wir uns stattdessen ein Beispiel an den Kindern, denn sie sind von Geburt an Wesen, die sich in höchster Form von Sympathie und Empathie mit ihrer Umwelt verbinden. Um mit größtem Interesse und mit offenen Sinnen auf die Welt der Erwachsenen zuzugehen, um sie nachzuahmen, benötigen sie ein Höchstmaß an Einfühlungsvermögen. Mit unermüdlicher Geduld werden Handlungen wieder und wieder vollzogen, einfach aus der Liebe zur Tätigkeit. Dem muss vorausgehen, dass wir als Erwachsene vorbildhaft und willensstark sind oder wenigstens werden wollen und die große Empathiegeste des Kindes mit eigener Empathie beantworten. Vom emotionalen zum gefühlvollen Handeln zu kommen, benötigt besonnene Ich-Aktivität, denn Emotionen haben ihren Ursprung im Unbewussten; sie sind stimmungshafter Natur, während das Gefühl schärfer umrissenen, bewussteren Charakter hat, sozusagen eine kultivierte Emotion geworden ist.

Mit Besonnenheit einmal am Tag bewusst beim Kind verweilen, innerlich in seinen Schuhen gehen, mit seinen Augen in die Welt blicken, in sein Herz und in seinen Bauch hineinfühlen, schafft Verbindung mit der inneren Sonne, dem Sonnengeflecht, dem Sympathicus des Kindes und trägt zu seinem Wohlbefinden bei.

Zur Autorin: Monika Kiel-Hinrichsen ist Erzieherin, Sozial- und Waldorfpädagogin und führt eine Praxis für Biographiearbeit, Paar- und Erziehungsberatung, Mediation und Supervision, www.forum-zeitnah.de. Leitung der Ipsum-Elternberaterausbildung in Kiel