Systemische Dreigliederung und die Frage nach Leib, Seele und Geist

Michaela Glöckler

In den physiologischen Prozessen der Nerven und Sinnesorgane sieht Steiner das »körperliche Gegenstück« zum Wahrnehmungs- und Vorstellungsleben des Menschen. Fühlen und Wollen hingegen haben dieses »körperliche Gegenstück« in den physiologischen Prozessen des rhythmischen und des Stoffwechsel-Gliedmaßen-Systems. Diese Forschungsergebnisse sind inzwischen vielfältig aufgegriffen und naturwissenschaftlich untermauert worden. (Girke; Schad; Soldner/Stellmann). Doch gehen wir zunächst auf die vier Wesensglieder des Menschen ein, die Rudolf Steiner auch »Gesetzeszusammenhänge« nennt.

Embryonalentwicklung und leibbildende Tätigkeit der Wesensglieder

In den ersten vier Wochen der embryonalen Entwicklung kann man den vier Wesensgliedern gleichsam bei der Arbeit zusehen. Die Gesetzmäßigkeiten innerhalb der irdischen Welt bezeichnet Steiner in ihrem Gesamtzusammenhang als physische Organisation bzw. physischen Leib. Es sind dies Gesetze, die von Punkt zu Punkt wirken und deren Träger die Stoffe der physischen Welt sind. In der ersten Entwicklungswoche zeigt sich ihr Wirken in der punktförmigen Zell­­ansammlung des sogenannten Morula-Stadiums.

Die Gesetzmäßigkeiten des Lebens hingegen, die mit der Sonne und den Rhythmen der Planeten zusammenhängen, kann man in der zweiten Woche beobachten. Steiner nennt diese Gesetzmäßigkeiten ätherische Organisation bzw. Ätherleib und beschreibt sie als Kräfte, die peripherisch-sphärisch ansetzen und arbeiten. Und genau dieses Eingreifen sphärisch wirksamer Kräfte zeigt sich in der embryonalen Hüllenbildung in der zweiten Woche, in deren Zentrum der Embryo selbst aus nur zwei dünnen Zellschichten besteht, dem Ektoderm und dem Entoderm, die sich ebenfalls sphärisch-flächig anordnen.

Den Gesetzmäßigkeiten des seelisch Erfahrbaren gibt Steiner den Namen astralische Organisation bzw. Astralleib. Dies sind Gesetze der Polarisierung und Differenzierung. Sie zeigen sich in der dritten Woche, wo erstmals die Dreigliederung morphologisch in Erscheinung tritt und damit auch die Differenzierung des mittleren Keimblattes und der anderen Gewebe beginnt.

Die Gesetzmäßigkeiten des »Welt- und Menschengeistes« hingegen werden Ich-Organisation genannt. Ihr Wirken erkennt man in der vierten Woche daran, dass sich die Gesamtgestalt des Embryos als Ergebnis gewaltiger Integra- tionsprozesse abzeichnet. Was wir aus der Embryonalentwicklung gut kennen: Das ganzheitlich gesteuerte proliferierende Wachstum, die differenzierende Gestaltung und die integrierende, sich aufeinander abstimmende und gegenseitig limitierende Prozessführung sind die komplexen Ausdrucksformen dessen, was Rudolf Steiner als die vier Wesensglieder mit ihren charakteristischen Kräfte-Wirkungen beschreibt.

Im zweiten Monat kann man dann das Zusammenwirken der vier Wesensglieder im dreigliedrigen Organismus eindrucksvoll beobachten.

Zuerst scheint alle Aktivität auf den Kopf hin zentriert, dann erfolgt die Ausgestaltung der rhythmisch gegliederten Mitte und schließlich die Veranlagung der Stoffwechselorgane und die Gliedmaßen-Knospen, die dann bis zum Ende des zweiten Monats auch zu sichtbaren Armen und Beinen werden.

Leib, Seele, Geist

Unter »Leib« verstehen wir nicht den Leichnam – den von Leben, Seele und Geist verlassenen Körper –, sondern den komplexen Zusammenhang des belebten, beseelten und geistbegabten Menschenwesens. Das heißt, der menschliche Leib ist nach Form und Substanz ein Ergebnis des Zusammenwirkens aller vier Wesensglieder im Stoffwechselgebiet. Es gibt keine Substanz im menschlichen Organismus, die nicht mindestens einen Verarbeitungsschritt in der Leber erlebt und dann über das Blut an den Ort des Bedarfs transportiert wird. Das Stoffwechselsystem umfasst über die Leber hinaus alle Organe, die der Nahrungsaufnahme und Verarbeitung dienen, das heißt, alle Auf- und Abbauvorgänge, die mit der Umwandlung der Nahrung in körpereigene Substanz zusammenhängen. Alle vier Gesetzeszusammenhänge arbeiten in diesem Funktionsgebiet harmonisch zusammen und sind nur im kranken Organismus mehr oder weniger beeinträchtigt. Das Stoffwechselsystem ist demnach für den kompletten Leibaufbau und dessen Regeneration verantwortlich. Bewusstseinsmäßig ist uns diese Region jedoch entzogen. Wir erleben den gesunden Stoffwechsel als Kraft und körperliche Energie, die uns zur Verfügung steht – wir können auch sagen, als allgemeine leibgebundene Willenserfahrung.

Polar dazu erscheint der wache Menschengeist. Ihm dient das Nervensystem, das in seiner Funktionsweise von Abbauprozessen beherrscht wird und nur kurze Zeit ohne Sauerstoffzufuhr überleben kann. Hier sind die Wesensglieder nur minimal im Zellstoffwechsel leibbildend tätig, weswegen wir auch müde werden und einschlafen. Während rhythmisches und Stoffwechselsystem Tag und Nacht arbeitsfähig sind, gilt dies für das Nerven-Sinnessystem nicht. Das wachbewusste Leben hat eine individuell begrenzte zeitliche Dauer – dann braucht das Nerven-Sinnessystem unweigerlich Erholung. Während des Wachzustandes sind wir demnach nur wenig regenerierend-leibbildend tätig. Stattdessen haben wir ein waches differenziertes Bewusstsein, das wir dort lokalisieren, wohin wir unsere Aufmerksamkeit richten. Wir erleben das Wachbewusstsein seelisch frei und leicht lenkbar in selbstbestimmter Tätigkeit. Steiner beschreibt diese Tätigkeit als rein geistige, »außerkörperliche« Erfahrung.

Sie ist das Fundament der anthroposophischen Menschenkunde. Sie besagt nicht mehr und nicht weniger, als dass die Gesetzmäßigkeiten der Wesensglieder, die wir in der Embryonalentwicklung anschaulich beobachten können, bereits vorgeburtlich vorhanden sind und auch nachtodlich als unsere spirituelle Menschenwesenheit weiter existieren. Bei der Empfängnis verbindet sich diese spirituelle Menschenwesenheit, der sogenannte Geistkeim des physischen Leibes, zusammen mit den anderen Wesensgliedern, mit der befruchteten Eizelle und die Inkarnation, das »Embodyment«, beginnt.

Im Lauf der körperlichen Reifung werden die Wesensglieder dann von ihrer leibbildenden Tätigkeit schrittweise frei und können sich der seelischen und geistigen Tätigkeit widmen, die sich am Nervensystem spiegelt und dieses dabei abbaut.

Diese Metamorphose der leibbildenden Tätigkeit der Wesensglieder in seelisch-geistige Aktivität geschieht jedoch nicht gleichförmig im menschlichen Organismus, sondern in seinen drei Funktionsgliedern verschieden. Würden sich die Wesensglieder zum Beispiel aus dem Stoffwechselleben zur bewussten Tätigkeit lösen, wäre dies mit der Gesundheit nicht vereinbar. Die volle Loslösung von ätherischer, astralischer und Ich-Organisation ist nur mit dem Nerven- und Sinnesleben vereinbar, deren devitalisierender Natur dies entspricht.

Menschlicher Geist wäre also unter diesem Aspekt das leibfreie Zusammenwirken dieser drei Organisationen beim Denken und der damit verbundenen Sinnestätigkeit. »Leib« wäre so gesehen inkarnierter Geist und »Geist« exkarnierter, außerkörperlich wirksamer Geist. Die Selbstbeobachtung bestätigt dies. Wer sein Denken bewusst beobachtet, bemerkt, dass er sich dabei in dreifacher Weise betätigt: im Hervorbringen von »Gedankenbildern« (hier erlebt man sein Geistesleben, seine »geistige Wachstumskraft«). Bemerkbar ist aber auch die Beteiligung des Fühlens am Denken, denn das Zusammenstimmen oder die Widersprüchlichkeit von Gedanken, ihre Schönheit oder Hässlichkeit, wird gefühlt (leibfreie astralische Tätigkeit). Wer jedoch wirklich nachdenkt, also selber denkt, strengt seinen Willen an (leibfreie Tätigkeit der Ich-Organisation). Dadurch erscheint auch der physiologische Unterschied zwischen Wach- und Schlafleben in neuem Licht: Die beim Denken wirkenden Wesensglieder Astralleib und Ich-Organisation setzen nachts ihre außerkörperliche Tätigkeit fort, der Ätherleib jedoch entzieht sich ihnen, da er zur Regeneration des Nervensystems in den Organismus zurückkehrt und für die außerkörperliche reflektierende Tätigkeit nicht mehr zur Verfügung steht.

Daher können sich Astralleib und Ich-Organisation ihrer vorgeburtlichen makrokosmischen Heimat zuwenden und in der rhythmisch geordneten Planetenwelt (Astralleib) und der Fixsternsphäre (Ich-Organisation) Erfrischung und Orientierung erfahren.

Beim Fühlen hingegen ist evident, dass das Denken ausgeschaltet ist, nicht aber der Wille. Daher wirken gefühlsbetonte Menschen oft »emotional«. Damit meint man den mit dem Fühlen verbundenen Willensimpetus, der im sozialen Umkreis je nach Situation gut oder weniger gut ankommt. Beim Fühlen sind also nur Astralleib und Ich-Organisation leibfrei tätig. Körperliche Grundlage für diese besondere Konfiguration zwischen Leib und Geist, Stoffwechsel- und Nervensystem, ist das rhythmische System, in dem Atmung und Herztätigkeit aufeinander abgestimmt tätig sind.

Wer beim Musikhören auf sein Gefühlsleben und sein rhythmisches System achtet, wird unmittelbar durch Selbsterfahrung bestätigen können, was Rudolf Steiner in seiner Forschung herausgefunden hat: dass Gefühle sich direkt und unvermittelt modifizierend auf die Oszillationen des rhythmischen Systems auswirken und andererseits auch vom rhythmischen System gestützt werden. Gefühle werden nicht durch neurochemische Vorgänge im Nervensystem hervorgebracht! Vielmehr werden Gefühle als seelische Realitäten mit Hilfe der Nerven-Sinnestätigkeit bewusst und dem Denken zugänglich. Die oben abgebildete Tafelskizze Rudolf Steiners aus einem Vortrag für Ärzte bringt diesen Sachverhalt ins Bild.

Konsequenzen für die Praxis

Aus dem Dargestellten kann verständlich werden, inwiefern alles, was in der Schule an das Denken, Fühlen und Wollen der Kinder und Jugendlichen appelliert, immer sowohl auf das Seelenleben als auch das damit verbundene Körpersystem und dessen Physiologie in Wachstum und Entwicklung Einfluss nimmt. Auch die Bemerkung Steiners aus dem ersten Vortrag der Allgemeinen Menschenkunde, der Lehrer müsse um das richtige Verhältnis von Schlafen und Wachen seiner Schüler besorgt sein, erhält dadurch ein physiologisches Fundament.

Denn der differenzierende Astralleib kann seine leibbildende Tätigkeit erst mit der Geschlechtsreife beenden und voll für seine Mitarbeit beim Denken und die seelisch-fühlende Tätigkeit zur Verfügung stehen. Das bedeutet aber auch, dass er sich nachts nicht in der Sternenwelt erfrischen kann. Daher ist so entscheidend, dass der Unterricht spirituell orientiert ist – und dass der Lehrer auf die Schüler beim Unterrichten einen authentischen und wahrhaftigen Eindruck macht.

Entsprechendes gilt für die Ich-Organisation, die erst zwischen 14 und 21 Jahren die Metamorphose zur außer­-körperlichen Tätigkeit vollzieht. Menschlichkeit und Werteorientierung sind hier der Ausgleich für ein Nachtleben, das sich noch nicht zur himmlischen Heimat zurück­wenden kann, in der man vorgeburtlich war.

Auch die Eurythmie erhält vor diesem Hintergrund eine neue Bedeutung. Die oben wiedergegebene Skizze Steiners über das Verhältnis der Drei- und Viergliederung zeigt auch, dass es einen Ort im Stoffwechsel-Gliedmaßen-System gibt, wo die Ich-Organisation leibfrei wird – als reiner »leibfreier« Wille – unabhängig vom Denken und Fühlen. Dieser Ort sind die Gliedmaßen, die Organe der Willkürmotorik.

In der Eurythmie werden diese Organe darin geübt, sich frei zu machen von den instinktgebundenen körperlichen Bedürfnissen. Sie werden dazu erzogen, sich in den Dienst von Sprache und Dichtung, Musik und Bewegungsgesetzen zu stellen. Sie werden darin geübt, Weltgesetze zu offenbaren – und all dies freiwillig. Denn zur Eurythmie kann niemand gezwungen werden. Man macht es entweder gern und damit freiwillig oder gar nicht.

Waldorfpädagogik will eine Erziehung zur Freiheit sein. Um jedoch die dafür nötige Physiologie der Freiheit zu verstehen und bewusst handhaben zu lernen, ist es hilfreich, die viergliedrige Wesensgliederkonstitution in ihrem Verhältnis zur funktionellen Dreigliederung zu studieren. Denn das Mysterium der Freiheit ist, dass der dreigliedrige Organismus zum lebendig beseelten Instrument wird, auf dem das Ich des Menschen spielt. So wie man das auch am Bild der Embryonalentwicklung ablesen kann: Erst werden die drei Systeme veranlagt, dann formt sich die Gesamtgestalt als Abbild des Menschen-Ich.

Zur Autorin: Dr. med. Michaela Glöckler, Kinderärztin, ist ehemalige Leiterin der Medizinischen Sektion am Goetheanum/Dornach. www.eliant.eu

Literatur: R. Steiner: Von Seelenrätseln, GA 21, S. 150 ff.; R. Steiner: Die gesunde Entwicklung des Menschenwesens, GA 203; R. Steiner: Menschenwerden, Weltenseele und Weltengeist, GA 205; R. Steiner: Allgemeine Menschenkunde, 1. Vortrag, GA 293; R. Steiner: Geisteswissenschaftliche Gesichtspunkte zur Therapie, GA 313; M. Girke: Innere Medizin: Grundlagen und therapeutische Konzepte der Anthroposophischen Medizin, Berlin 2018; W. Schad: Säugetiere und Mensch. Ihre Gestaltbiologie in Raum und Zeit, Stuttgart 2012; G. Soldner/M. Stellmann: Individuelle Pädiatrie in Diagnostik und Beratung. Anthroposophisch- homöopathische Therapie, Stuttgart 2018; M. Glöckler: Was ist Anthroposophische Medizin?, Dornach 2017.