Tafelfreuden

Heidi Obertreis, Ulrich Kling

Heidi Obertreis | Warum gibt es Tafelbilder und welche Bedeutung haben sie?

Ulrich Kling | Ein Tafelbild verschönert das Klassenzimmer. Die Kinder müssen nicht auf eine unbelebte schwarze oder dunkelgrüne Fläche schauen, sondern ihr Blick findet Halt und Nahrung. Das halte ich für sehr wichtig, gerade in unserer Zeit, in der bereits die Kleinen oft von Eindruck zu Eindruck hasten. Ein Klassenzimmer sollte künstlerisch gestaltet sein. Das Tafelbild kommt diesem Anspruch entgegen. Sie können sich darin vertiefen; wenn sie noch klein sind, können sie hineinträumen. Die Älteren finden darin vielleicht Anregungen zum Nachdenken oder es inspiriert sie, selber Stifte und Farbe in die Hand zu nehmen.

HO | Ich war jedes Mal beeindruckt, wieviel Atmosphäre diese Bilder dem Raum geben. Haben die Kinder dies auch so wahrgenommen?

UK | Ich bin mir sicher, dass die Kinder sich in einem gestalteten Klassenzimmer, das anregend auf alle Sinne wirkt, wohler fühlen als in einem Raum, der ein Sammelsurium von Lernmaterialien bereithält. Ein Tafelbild, das durch die Hand des Lehrers entstanden ist, so vollkommen oder unvollkommen es auch sein mag, ist in jedem Fall ein Geschenk an die Kinder, die viele Stunden in diesem Raum verbringen. Natürlich spüren sie, wenn der Lehrer darauf Wert legt, eine Umgebung für sie zu gestalten, auf die sie sich freuen können, weil sie ihren Sinn für Schönheit anspricht. Schiller sprach von der Wichtigkeit einer »ästhetischen Erziehung des Menschen«.

Zu meinen schönsten Erlebnissen gehört es, wenn Kinder morgens staunend ein Bild betrachten. Natürlich gibt es gelegentlich auch kritische Stimmen: »Das ist dir diesmal aber nicht so gut gelungen!« Was ich immer wieder erstaunlich finde, ist, dass es in all den Jahren nur sehr selten vorkam, dass ein Bild einem »Attentat« zum Opfer fiel, trotz mancher Rabauken, die in meinen Klassen anzutreffen waren, die sonst vor keinem Unfug zurückschreckten. Ich betrachte das als Wertschätzung.

HO | Wie ist bei Ihnen so ein Tafelbild entstanden? Wie haben sie »ihr Motiv« gefunden und wie lange haben Sie an einem Tafelbild gemalt?

UK | Meine Tafelbilder richten sich nach dem Alter der Kinder und dem jeweiligen Erzählstoff. In der ersten Klasse sind das natürlich vor allem Märchenmotive, in der zweiten Klasse Szenen aus Fabeln und Legenden, in der dritten und vierten Klasse Bilder aus dem Alten Testament oder der germanischen Mythologie. Natürlich ändern sich die Motive mit dem Älterwerden der Schüler. So eignen sich in der siebten und achten Klasse auch markante Ereignisse aus der Geschichte, wie die drei Karavellen bei der Ankunft des Kolumbus vor der Küste der »Neuen Welt«. Aber auch die Geometrie bietet großartige Möglichkeiten für künstlerische Darstellungen.

Wie lange ich für eine Bild brauche, kann ich nicht so genau sagen. Manchmal viele Stunden, die ich aber kaum bemerke. Das ist ja bekannt: Wenn man aufgeht in dem, was man tut, spielt die Zeit keine Rolle. Manchmal lege ich auch ein Bild an und vervollständige es über mehrere Tag hinweg, mitunter auch vor den Kindern, während ich ihnen eine Geschichte erzähle.

HO | Ist es Ihnen schwer gefallen, ein Tafelbild für ein neues »Werk« abzuwischen?

UK | Nach einer gewissen Zeit passen die Bilder nicht mehr in den Zusammenhang des Unterrichtsgeschehens und sie verblassen – auch im wahrsten  Sinne des Wortes. Dann muss etwas Neues her, vielleicht auch, weil ein anderes Bild besser zur Jahreszeit passt. So können die Kinder miterleben, dass die Gestaltung des Klassenzimmers einhergeht mit dem Naturgeschehen draußen. Ich zeichne und male ohnehin schon seit langem sehr gerne. Die Tafel im Zusammenhang mit der Kreide bietet mir Gelegenheit, ein Bild ganz großräumig anzulegen – eine tolle Erfahrung.

HO | Ich erinnere ein Tafelbild, das »gewachsen ist«, wie eine Art Adventskalender.

UK | Ja, das stimmt. In der Adventszeit war es mir immer wichtig, die Vorfreude der Kinder auf das Weihnachtsfest anzuregen. Ein Bild, das die Erwartung schürt, kann dazu beitragen. Deshalb kam an jedem Tag ein Detail dazu.

Zunächst war da nur der leere Stall und Maria und Josef am fernen Horizont als kleine Leuchtpunkte. Von Tag zu Tag wanderten sie ein wenig mehr in den Vordergrund, bis sie deutlich Gestalt annahmen. Außerdem gesellte sich dann und wann ein weiteres Schaf oder ein verspäteter Hirte dazu. Marias Esel, bockig, wie er zuweilen sein kann, sprang von hier nach da. Die Kinder kamen an
jedem Tag gespannt ins Klassenzimmer und suchten nach den Neuankömmlingen innerhalb des Bildes.

HO | Wie viele Tafelbilder haben Sie wohl schon in ihrer Lehrtätigkeit gemalt?

UK | Das kann ich nicht genau sagen. Es werden an die hundert sein. Gelegentlich kommt es vor, dass ich in einem neuen Klassenzug ein Motiv aufgreife, das acht Jahre vorher schon einmal vorkam. Das ist dann ein freudiges Wiedersehen, wie mit einem alten Bekannten, obwohl ich das Bild natürlich nach so langer Zeit nicht detailgetreu reproduzieren kann und will.

HO | Für mich waren die Tafelbilder vor allem an den Elternabenden ungeheuer ablenkend, weil es darauf so viel zu entdecken gab und sie mit so viel Liebe zum Detail gemalt waren. Immer konnte ich noch etwas darauf entdecken und tiefer eintauchen. Sie füllen den Raum mit einer Art Musik für die Augen. Es entsteht ein innerer Klang und eine besondere Stimmung im Raum. Hier sind nun einige Kostproben – schauen und hören Sie hinein …