Tappen im Dunkeln

Anna Magdalena Claus

Meine Hand tastet einige Sekunden in der Luft herum, bevor sie die kleine Hand von Merve findet und zur Begrüßung drückt. Ich lerne Merve so kennen wie sie mich, denn ich habe mich dazu entschieden, schon für unsere Begrüßung meine Augenklappen aufzusetzen. Mit aufgeweckter Stimme stellt sie sich vor und gibt mir einen Blindenstock in die Hand. Von der Bushaltestelle bis zu dem Gebäude der »Nikolauspflege« führt mich die Photographin Leonie und ich fühle mich sicher. Jetzt soll ich mich zusätzlich mit dem Blindenstock orientieren und verliere jegliches Vertrauen … Mein Körper verkrampft sich und mit kleinen, unsicheren Schritten trete ich hinter den Anderen ins Freie. Beim Gehen lasse ich den Blindenstock schulterbreit vor mir über den Boden gleiten. Jede Unebenheit schlägt ihn mir fast aus der Hand oder stößt ihn in meine Seite. Irgendetwas stimmt da nicht ... die sehende Photographin ist nötig, um meinen Fehler zu entdecken: Der Blindenstock liegt falsch in meiner Hand. Ich halte ihn von unten, richtig ist, den Stock von oben mit der Hand zu umfassen.

Die Busfahrt zum Hauptbahnhof nutze ich, um Merve auszufragen. Anfangs sind das keine Fragen, die ich einer Sehenden stellen würde. »Welche Haarfarbe hast du? Wie groß bist du?« Nach und nach entsteht ein Bild von ihr in meinem Kopf, das ich auch durch Tasten immer weiter vervollständige. Bis zum Ende unserer Verabredung wird es sich aber ständig verändern.

Auf der Königstraße rieseln Schritte, Musik und Wortfetzen auf mich ein. Die Einkaufsstraße ist belebt. Komischerweise habe ich das Gefühl, keine Passanten müssten in die gleiche Richtung wie wir. Alle Geräusche kommen auf uns zu und gehen an uns vorbei. Nur wir müssen in die andere Richtung.

Von weitem höre ich eine Straßenkapelle Balkan-Musik spielen. Als wir der Musik immer näher kommen, versuchen Merve und ich, die Besetzung der Band herauszuhören. »Ich höre eine Ziehharmonika«, sage ich und Merve sagt: »Ich höre zwei«. Nachdem wir Klarinetten, Trommeln, Trompete und Gitarre identifiziert haben, möchte ich den Musikern einige Münzen geben. Nur wie?

»Da steht ein Gitarrenkoffer bereit«, sagt die Photographin und dreht mich in die richtige Richtung. Beherzt laufe ich los und schon nach ein paar Schritten werde ich aufgehalten. Eine raue Hand schiebt sich unter meine und ich lasse das Geld unsicher hineinfallen. Dann geht alles ganz schnell. Ich werde gepackt, mitgezogen und lande mitten zwischen Klarinette, Akkordeon und Trompete. Die Musiker wollen uns Blinden eine Freude bereiten. Von allen Seiten kommt Musik und ich verliere vollkommen die Orientierung. In welcher Richtung steht die Photographin? Wo um Gottes Willen ist Merve? Wie komme ich hier wieder weg? Zu allem Überfluss beginnt der Sänger mir mit rauchiger Stimme ins Ohr zu singen. Nach einer gefühlten Ewigkeit rettet mich die Photographin vor der überschwänglichen Band. Auch Merve, die ganz in meiner Nähe ebenfalls von der Band besungen wurde, hilft sie aus dem Orchester. Im Gegensatz zu mir hat sie sich zwischen den Instrumenten aber wohl gefühlt. Sie liebt Musik und möchte Sängerin werden.

Den größten Nachteil ihrer Blindheit sieht Merve in ihrer räumlichen Orientierungslosigkeit in Städten. Auf eigene Faust einen fremden Stadtteil zu erkunden, ist Merve nicht möglich. Und dass sie die Menschen, mit denen sie Kontakt hat nicht sieht? »Das ist nicht schlimm«, sagt sie gelassen. Und mir fällt ein Satz aus dem »Kleinen Prinzen« von Antoine de Saint-Exupéry ein: »Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.« Überraschenderweise geht es auch mir so.

Meine Neugierde, Merve, die Musikanten oder Passanten zu sehen, ist eigentümlicherweise nicht so groß, wie das eigentlich unwichtige Bedürfnis, den Ort zu erkennen, an dem ich mich befinde. Merve kann ich mir prima vorstellen. Mir fehlt nichts, das Bild ist vollständig. Wenn ich meine Augenklappen vom Kopf reißen möchte, dann weil ich keine Ahnung habe, wo das nächste Café ist. Dazu haben wir aber Leonie dabei. Sie führt uns in ein Café am Rathaus und sucht einen freien Tisch für uns. Von allen Seiten wird uns geholfen, unseren Tisch zu erreichen. Arme greifen nach mir und führen mich vorbei an Kinderwägen, Stühlen und Kellnern – glaube ich zumindest. Ein »Danke« in alle Richtungen und ich sitze auf der Bank. Später verlassen wir aufgewärmt das Café. Unsere Verabredung neigt sich dem Ende zu.

Wir gehen gemeinsam zum Hauptbahnhof, von wo aus Merve ihre U-Bahn nach Hause nehmen kann. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge entschließe ich mich, die Augenklappen auszuziehen. Ich ahne schon, dass es alles verändern wird. Vor allem verändert es mich. Die Unsicherheit meiner Bewegungen weicht der gewohnten Sicherheit meiner Schritte. Die Merve vor meinem inneren Auge wird durch eine Merve ersetzt, die scheinbar hilflos vor mir steht. Ich bin verwirrt. Mein Sehen macht mich ratlos. Ich stehe vor einem Menschen, den ich nicht zu kennen scheine. Ich sehe, wie klein Merve ist, wie jung ihr Gesicht und wie erwartungsvoll ihre Augen an mir vorbei schauen. Ich bekomme Mitleid. Wie kann das nur passieren? Sie ist doch die Person, mit der ich den ganzen Nachmittag geredet, gewitzelt und gelacht habe. Sie hat mir erklärt, wie man sich von ihrer Uhr die Zeit sagen lassen kann und mir versichert, dass in der Straßenmusikantenband zwei Akkordeons spielen. Ich bin unsicher.

Merves Bahn fährt ab und durch meinen Blick habe ich Merve verloren. Mein Sehen machte sie mir fremd.