Beziehung vor Unterrichtsfächern. Neue Formen der Zusammenarbeit

Christian Boettger

Die Bestimmungen zur Einschränkung der Kontakte wurden von den Lehrern als besonders schwierig erlebt, weil man sich unter diesen Umständen nicht wie gewohnt im Kollegium oder in den Konferenzen austauschen und absprechen konnten, um die Kinder zu Hause mit Lernstoff und Aufgaben angemessen versorgen zu können. Die gewohnten Formen der Zusammenarbeit waren nicht erlaubt. Zudem entfielen von heute auf morgen auch alle gewohnten Begegnungen mit den Schülern und viele Klassenlehrer hatten einfach nicht genug Zeit, neben allen sonstigen Aufgaben, zumindest einen längeren Kontakt zu jedem Schüler pro Woche zu halten. Welche Lösungen können gefunden werden, um einerseits diese beiden konkreten Probleme zu bewältigen und andererseits über eine rein organisatorische Lösung hinaus die Krise als Entwicklungschance und als -perspektive aufzufassen?

Der Versuch einer Antwort auf diese Situation war in mehreren Schulen »Teamarbeit in kleinen Teams«, d.h. Teams, die jeweils für eine Schülergruppe eine voll umfängliche Verantwortung in der individuellen Begleitung, in der Stoffauswahl und in den Lernherausforderungen haben. Diese Teambildung für eine konkrete Schülergruppe stellt einen Paradigmenwechsel weg von der Priorität der Fächer, hin zur Priorisierung der Beziehung dar. Wenn eine Handarbeitskollegin oder ein Englischkollege nicht mehr für 90 bis 150 Kinder und Jugendliche pro Woche verantwortlich ist, sondern nur noch für 30 bis 40, haben sie die Möglichkeit, wirklich eine Beziehung zu den Kindern verbindlich zu gestalten.

Eine effektive Zusammenarbeit in kleinen Teams ist in der Bewältigung von Krisensituationen – zum Beispiel auch in der Notfallpädagogik – einer zentralen Steuerung von oben, oder dem Versuch »es alleine zu schaffen«, überlegen. Die komplexen Organisationsbedingungen einer vollausgebauten Schule sind für viele Menschen nicht mehr überschaubar, daher empfiehlt es sich, nicht nur für Krisensituationen andere Formen der Zusammenarbeit zu schaffen, die übersichtlich, innerlich verbindlich und förderlich für den Einzelnen, und schließlich effektiv sind.

Die erste Hürde ist aber die Organisation der Teambildung. In einer einzügigen Schule (mit etwa 450 Schülern in 13 Klassen mit etwa 36 Schülern pro Klasse arbeiten 40 Kollegen) bräuchte es für jede Klasse zwei bis vier Menschen, die ein verantwortliches Team bilden – wobei für die Klassen zwölf und dreizehn flexiblere Lösungen gefunden werden müssten, weil hier die Anforderungen der Prüfungsvorbereitungen je nach Bundesland eventuell ein breiteres Fächerspektrum erfordern.

In Schulen mit kleineren Klassen müssten die Schülergruppen so zusammengefasst werden, dass je drei Kollegen für etwa 30 bis 40 Kinder oder Jugendliche zuständig wären, indem beispielsweise zwei Klassen in einem »Cluster« zusammengefasst werden. Sinnvoll wäre es auch, die Unter-, Mittelstufe und Oberstufe für sich zu betrachten, die Lehrer den jeweiligen Stufen zuzuordnen und dann erst in die weitere Aufteilung zu gehen. Die Aufteilung ist unter Umständen ein sozial nicht einfacher Prozess – ich bin aber überzeugt, dass wir für das Wohl und die Versorgung, der uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen alle persönlichen Vorbehalte untereinander ablegen müssten. Die Aufteilung der Schule in verantwortlich arbeitende Teams hatten viele Schulen schon in der Selbstverwaltung für bestimmte Delegationen geübt – nun sind diese Fähigkeiten auf die pädagogische Zusammenarbeit zu übertragen. Dadurch wird die Komplexität der Schulorganisation verringert und damit haben mehr Menschen als vorher die Möglichkeit, in einer Krisensituation die Situation zu überschauen und damit verantwortlich zu handeln.

Innerhalb eines Teams stehen meines Erachtens drei zentrale Aufgaben an:

  • Die persönliche Begleitung der Kinder und Jugendlichen, wozu sich die Kollegen detailliert abstimmen können.
  • Die Verantwortung für die Gestaltung des Lernstoffes in der zur Verfügung stehenden Zeit.
  • Die Zusammenarbeit und der Austausch mit den jeweils anderen Teams im Kollegium sowie der Kontakt zu den Elternhäusern.

Diese drei Aufgabenstellungen bieten für die Beteiligten die Möglichkeit, sich innerlich seelisch tiefer miteinander zu verbinden. Die Zusammenarbeit auf diesen drei Ebenen wird die Wahrnehmung und Achtsamkeit füreinander deutlich stärken. Das »Erwachen am Seelisch-Geistigen des Anderen«, das Rudolf Steiner 1923 seinen Mitarbeitern ans Herz gelegt hatte, wurde in den Konferenzen zunehmend schwieriger. Immer wieder hat sich gezeigt, dass eine Teamarbeit zum Beispiel auf Klassenfahrten oder bei Projekten oder gemeinsamen Unterrichten ganz neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit eröffnete.

Persönlich begleiten

Ich habe Teams kennengelernt, die diese Aufteilung nicht als eine einfache Divisionsaufgabe verstanden haben, sondern die von ihnen begleitete Gruppe sehr bewusst auf die unterschiedlichen Herausforderungen hin angeschaut haben und dann zu einer – ich nenne es menschlichen – individuellen Aufgabenteilung gekommen sind, in der z.B. der Klassenbetreuer 15 Kinder übernahm, die Sportkollegin zehn und die Sozialarbeiterin der Schule, die dieses Team unterstützte, acht weitere Jugendliche. Jeder Jugendliche dieser Klasse wurde mindestens einmal in der Woche persönlich kontaktiert, um die konkreten Herausforderungen – Tagesgestaltung, Lern-Aufgabestellungen und die mangelnden Sozialkontakte – zu besprechen. Es zeigte sich, dass es sinnvoll ist, Lern- und Arbeitstage­bücher anzulegen, aus welchen die Jugendlichen Passagen vorlesen können, um ihre Lernerfahrungen zu reflektieren. Es ist wichtig, dass sich das jeweilige Team darüber austauscht, wie es den Einzelnen in der Klasse geht – besonders für den Klassenbetreuer. Für Klassen- und Fachlehrer war es eine ganz besondere Erfahrung, einerseits so tiefe und bewegende Gespräche mit den Kindern und Jugendlichen zu führen, und zum anderen die Erfahrung zu machen, wie wohltuend es ist, die Aufmerksamkeit auf eine überschaubare Anzahl von Menschen zu reduzieren.

Umgang mit Unterrichtstoff

In Krisenzeiten kann der Arbeits- und Lernstoff nicht so umfangreich sein, wie bei gewohntem Schulbetrieb. Aber steckt darin nicht eine Riesenchance, sich in dieser Ausnahmesituation darauf zu besinnen, was jetzt für die Klasse, für jeden einzelnen Schüler wirklich wichtig ist? Die kleinen Teams können durch ihre Zusammenarbeit und den Kontakt zu ihrer Gruppe die Arbeitsaufgaben und Lernherausforderungen an ihre Gruppe anpassen und vielleicht sogar individualisieren. Wenn die Klassenlehrerin oder der Klassenbetreuer eine solche Entscheidung alleine fällen muss und nicht mit dem gesamten Kollegium aus welchen Gründen auch immer absprechen kann, fühlt er sich leicht überfordert. Die kollegiale Beratung kann einerseits leichter die Verantwortung für diese Reduzierung unterstützen und sorgt gegenüber den Eltern für Transparenz.

Weiterhin kann das Team leichter auf das jeweils altersgemäße, aber selbstverantwortliche Arbeiten der Kinder und Jugendlichen hinwirken, weil diese drei verantwortlichen Pädagogen eine verbindlichere Beziehung zu den Kindern oder Jugendlichen gestalten können, indem sie sich zu dritt beraten, aber nur 8 bis 15 junge Menschen direkt begleiten. Es scheint sinnvoll, dass die Lern- und Arbeitsaufgaben für die Kinder und Jugendlichen als Projekte formuliert werden, die möglichst umfassend »Kopf Herz und Hand« ansprechen. Die Fächerreduktion darf nicht das Spektrum der Waldorfpädagogik einschränken – d.h. sie muss die handwerklichen, künstlerischen und kognitiven bewusstseinsbildenden Elemente des Unterrichts als solche berücksichtigen und nicht die einzelnen Fächer. Es geht auch nicht darum, eine fachliche Fragestellung ganz abzuschaffen, sondern die Konfrontation der Jugendlichen mit bis zu zwölf Fächern pro Woche und oftmals sechs Fächern pro Tag zu reduzieren, zu Gunsten einer Lösung, die z.B. pro Tag und Woche den Kindern einer Klasse die Arbeit an einem Projekt ermöglich, so dass alle Aspekte der kognitiven, emotionalen und volitionalen Herausforderung abgedeckt sind. Wenn das nicht gelingt, kann man auch drei Themen pro Tag setzen, anstatt sechs.

Zusammenarbeit mit Kollegen und Eltern

Bei einer alleinigen Fokussierung auf die Teamarbeit, die in einer Krisenzeit notwendig erscheint, würde mit der Zeit die Schule ihre Einheit verlieren. Daher ist es wichtig, dass sich die Teams in regelmäßigen Abständen untereinander austauschen und ihre Arbeit transparent für die anderen ist. Eine solche Zusammenarbeit der Teams untereinander, in der die Leitgedanken der Schule oder Organisation vertieft werden, war von Anfang an in den Konferenzen angelegt. Durch das Übungsfeld Teamarbeit wird diese Zusammenarbeit im besten Falle auf eine neue Ebene gehoben, denn es ist ja deutlich, dass ein ganz neues Interesse entstehen kann, wie die einzelnen Teams ihre Herausforderungen lösen. Weiterhin ist es wichtig, die Elternhäuser insbesondere auch im Bereich der Arbeits- und Lerninhalte auf dem Laufenden zu halten. Gerade in letzter Zeit mehren sich nicht nur an den staatlichen Schulen große Ängste, dass die Kinder und Jugendlichen einfach viel zu wenig lernen und dann in der Zukunft diese Lücken zum Problem werden. Durch die verbindlichen und direkten Beziehungen der verantwortlichen Kolleginnen und Kollegen zu ihrer Schülergruppe und durch die Motivierung zu selbstverantwortlichem Arbeiten sollen die Elternhäuser von der Stoffvermittlung selbst entlastet werden. Kolleginnen und Kollegen, die die Lernfortschritte der Kinder direkt erleben, können leichter eine Sicherheit vermitteln. Die Arbeits- und Lerngewohnheiten, die durch mangelnde Begleitung bei vielen Kindern und Jugendlichen verloren gehen, sind meiner Wahrnehmung nach viel schwerwiegender als der mangelnde Stoff.

Bei der Zusammenstellung der Teams wird im günstigsten Fall ein möglichst großes Spektrum an Fähigkeiten und Fächern abgedeckt. Während in der Unterstufe die Teams über längere Zeiträume konstant bleiben sollten, können in der Mittel- und spätestens in der Oberstufe die Teams regelmäßig rotieren, damit hier dem Fächerspektrum Rechnung getragen werden kann. Mir wurde von einer Schule berichtet, die in der Zeit des eingeschränkten Regelbetriebs (Mai-Juni 2020) ihre 39er Klasse in drei Gruppen aus einem Team von drei Kolleginnen oder Kollegen den Vormittag über in drei jeweils 70-minütigen Einheiten (inzwischen werden 90 Minuten geplant) mit drei Fächern versorgte. Darunter war immer der Hauptunterricht, eine Sprache und ein handwerkliches oder künstlerisches Fach. So fand der Unterricht von der 1. bis 8. Klasse statt. Der Schulalltag (im eingeschränkten Regelbetrieb war Unterricht in Kleingruppen ohne Durchmischung) wurde dadurch beruhigt, denn es gab pro Woche viel weniger Fach- und Menschenkontakte. Die einzelnen Lern- und Arbeitsaufgaben erfuhren eine tiefere Begründung und in kürzerer Zeit bearbeitet werden konnten. Nach drei bis vier Wochen wechselte das Team, nur die Klassenlehrerin oder der Klassenlehrer blieb als konstante Bezugspersonen. Dieses Modell kann meines Erachtens auch weitergeführt werden in Zeiten, in denen gar kein Unterricht in der Schule sattfinden kann, denn die drei Kollegen des Teams werden Wege finden, wie sie für ihre Schülergruppe einen sinnvollen Tages- und Wochenablauf gestalten können, der auch auf die häus­lichen Möglichkeiten abgestimmt ist.

In einer Zeit, in der es immer schwerer fällt, in großen Kollegien zielführend zusammenzuarbeiten, ist die pädagogisch motivierte Teambildung ein ganz besonderes Erfahrungs- und Lernfeld. In der Zusammenarbeit lernen sich die Lehrkräfte kennen und schätzen und können leichter wahrnehmen, wo Kollegen Unterstützung brauchen – ein Gewinn für die Zusammenarbeit im großen Kollegium auch im normalen Schulbetrieb. Und die Kinder und Jugendlichen profitieren gleich mehrfach: Sie erhalten eine verbindliche Begleitung durch verantwortlich zusammenarbeitende Menschen und können darin Vorbilder für ihre eigene und insbesondere für die spätere berufliche Teamarbeit erleben.

Zum Autor: Christian Boettger ist Leiter der Pädagogischen Forschungsstelle und Geschäftsführer im Bund der Freien Waldorfschulen.