Selbstorganisation im Team eröffnet neue Möglichkeiten

Michael Harslem

Alle Waldorfschulen in Südtirol und Italien müssen im Vergleich zu Deutschland unter sehr viel schwierigeren Bedingungen arbeiten. Sie bekommen wenige bis keine staatlichen Zuschüsse. Deshalb können sie ihren Lehrkräften nur geringe Gehälter bezahlen. Die Schulen kämpfen mit einem Mangel an ausgebildeten Waldorflehrern. Gleichzeitig müssen sie staatliche Prüfungen ablegen. Es gibt wenige Eltern, die wirklich von der Waldorfpädagogik überzeugt sind, die meisten suchen eine alternative Schule oder wählen die Waldorfschule, sobald ihre Kinder mit bestimmten Situationen an der öffentlichen Schule Schwierigkeiten haben.

Die Waldorfschule Brixen betreut zurzeit zwei Kindergartengruppen mit 32 Kindern durch vier Erzieherinnen an zwei verschiedenen Standorten. 50 Kinder und Jugendliche werden in zehn Klassenstufen von zehn Lehrern unterrichtet (sieben Volldeputate insgesamt).

Seit Anfang 2019 begleite ich diese Schule, um mit dem Kollegium bei der geringen Schülerzahl pro Jahrgangsstufe in Kombinationsklassen eine für Schüler wie Lehrer sinnvolle und effektive Arbeitsweise zu entwickeln. Das Kollegium entschied im Sommer 2020, sich – von mir begleitet – im Sinne der Selbstorganisation neu aufzustellen. Die wesentlichen Merkmale der Selbstorganisation sind dabei:

  • selbstorganisiertes Arbeiten in selbstgewählten Lehrer-Teams;
  • neue Formen der Zusammenarbeit und Entschei  dungsfindung ;
  • jeder Lehrer soll all seine Potenziale einbringen und ist dabei nicht auf sein Fach beschränkt;
  • jeder macht das, was er gut kann und ihm Freude macht;
  • schülerorientierte und fächerübergreifende Projektestehen im Fokus;
  • der Unterricht orientiert sich an den Lernmöglichkeiten und -bedürfnissen der Schüler;
  • arbeiten und lernen in selbstgewählten Schüler-Teams.

Team- und Ressourcen-orientierter Lehrplan

Im ersten Schritt haben wir die Potenziale und die Interessen der einzelnen Lehrer herausgearbeitet. Jeder hat für sich auf ein Plakat geschrieben, was er im nächsten Schuljahr gerne mit den Schülern machen möchte. Dann haben alle ihre Plakate präsentiert und erläutert, anschließend alles gemeinsam ausgewertet. Das war eine schöne und bereichernde Erfahrung, weil sichtbar wurde, wie viele Potenziale und konstruktive Impulse in diesem kleinen Kollegium schlummerten, die vorher noch gar nicht so richtig erkennbar geworden waren.

So wollte zum Beispiel die Italienischlehrerin schon immer ihre Lieblingsfächer Kunstgeschichte, Geschichte und Geografie unterrichten, die Englischlehrerin Geografie, Geschichte und Sport, die Musiklehrerin auch Englisch, Theater und Sport, die Kunstlehrerin in Projekten Kunst, Handarbeit und Deutsch verbinden, eine Klassenlehrerin mehr in und von der Natur lernen, der Werklehrer das Handwerk mit Kunst, Kunstgeschichte, Geografie, Pflanzenkunde, Mineralogie und Sprache verbinden, um hier nur einige zu nennen. Jeder hatte Anliegen, die über sein Fach hinauswiesen. So wurde ein breites Spektrum an möglichen Inhalten sichtbar, die das Kollegium auch ohne zusätzliche spezielle Fachleute für einzelne Fächer abdecken konnte. Mitten in diesem Prozess erreichte uns die Bewerbung einer Lehrerin, die eine entstandene Lücke gut ausfüllen konnte. Allen wurde deutlich, dass das vorhandene Gesamt-Team die Schule vollumfänglich weiterbetreiben konnte.

Im nächsten Schritt bildeten wir vier klassenübergreifende Lerngruppen (1. bis 3., 4. bis 6., 7. und 8., 9. und 10. Klasse). Zu jeder Lerngruppe bildete sich in einem offenen Prozess ein Team von mindestens zwei Lehrern, die diese Lerngruppe verantwortlich durch das Jahr begleiten wollten. Auch die beiden Kindergartengruppen, die an verschiedenen Standorten arbeiten, bildeten ein gemeinsames, übergreifendes Team. Da viele Lehrer auch in zwei Lerngruppen arbeiten, wurde beschlossen, in jeweils zwei Lerngruppen intensiver zusammenzuarbeiten. Dabei ergab sich organisch, dass die beiden Lerngruppen der unteren Klassen und die beiden Lerngruppen der oberen Klassen sich enger zusammenschließen. Mit dem erweiterten Angebotsspektrum konnte gut in verschiedenen Projekten gearbeitet werden. Wir strebten an, möglichst viel in fächerübergreifenden Projekten zu unterrichten und alle Fächer als Epochenunterricht anzubieten. So wurde mit viel Schwung gemeinsam ein neuer Stundenplan entwickelt, der auch klassenübergreifende Projekte möglich macht und den selbstverantwortlichen Teams viel pädagogische Freiheit lässt. Im Rahmen der gemeinsamen Verabredungen haben damit die einzelnen Teams sehr viele Möglichkeiten, flexibel auf die Bedürfnisse der Schüler einzugehen und ihre Projekte entsprechend zu gestalten.

Entscheidungen treffen! Ja, aber wie?

Für die Entscheidungsfindung wurden als neue Methoden das »systemische Konsensieren«, und der »Soziokratische KonsenT« eingesetzt.  Früher war hier – wie in den meisten Waldorfschulen – das Einmütigkeitsprinzip üblich, bei dem zwar nicht alle zustimmen müssen, aber auch keiner mehr dagegen sein darf, oder bei großen Entscheidungen sogar das Einstimmigkeitsprinzip, bei dem alle zustimmen müssen. Dies wurde auch hier – wie in den meisten Waldorfschulen – dann teilweise vom Mehrheitsprinzip (d.h. die von einer Mehrheit befürwortete Lösung wird beschlossen) abgelöst, was immer Gewinner und Verlierer hervorbringt und auf die Dauer die Kollegien und Schulgemeinschaften immer mehr in Uneinigkeit bringt und sogar spalten kann. Aus diesen Erfahrungen heraus entwickelten die beiden Grazer Systemanalytiker Erich Visotschnig und Siegfried Schrotta die Methode des systemischen Konsensierens. Anders als die anderen Verfahren, die auf der Zustimmung zu einer Lösung beruhen, messen sie den Widerstand gegen verschiedene Alternativen oder Lösungen und kommen damit zu klaren Ergebnissen, da sich darin die soziale Tragfähigkeit einer Lösung zeigt.

Der »Soziokratische KonsenT« ist im Rahmen der Ansätze der Selbstorganisation durch Soziokratie entstanden. Sozio­kratie ist eine 1926 von Kees Boeke in seiner Reformschule in Bilthoven bei Utrecht entwickelte Methode der Kreisorganisation mit selbstorganisierten, selbstverantwortlichen Teams und einer kollegialen Führung. 1970 entwickelte sein Schüler Gerard Endenburg es zu einem Organisationsprinzip für Unternehmen weiter und fand in der Folge viele Nachahmer. Im Gegensatz zum Konsensprinzip durch Einmütigkeit oder Einstimmigkeit und zum Mehrheitsprinzip in der Entscheidungsfindung geht es im soziokratischen KonsenT um die bewusste Wahrnehmung und Integration von Bedenken gegen eine Entscheidung in sieben klar definierten Stufen. Diese neuen Formen der Entscheidungsfindung werden jetzt auch vom Kollegium in Brixen ausprobiert und haben die Entscheidungen vereinfacht. Durch die konsequente Arbeit in stabilen verantwortlichen Teams veränderte sich auch die Konferenzstruktur grundlegend.

Die Konferenz beginnt jetzt mit zwei parallelen 75-minütigen Teamsitzungen, in denen jeweils eine Lerngruppe im Mittelpunkt steht, dann folgt eine Stunde Gesamtkonferenz, die zur Abstimmung der wichtigen übergreifenden Themen ausreicht, weil das Wesentliche, das Pädagogische, in den Teams besprochen wird. Danach kommen die zweiten parallelen 75-minütigen Teamsitzungen, in denen jeweils die andere Klassenstufe im Mittelpunkt steht. Diese neue Form der Konferenzarbeit wird nun während dieses Schuljahres erprobt. Meiner Beobachtung nach hat  die ausreichende Zeit in der Konferenz zu einer sehr intensiven Zusammenarbeit der einzelnen Teams geführt, mit einer starken Orientierung an den Schülern und zu einer sehr viel größeren Zufriedenheit der beteiligten Lehrer. Alle können jetzt viel flexibler auf veränderte Bedürfnisse der Schüler und Lehrer eingehen. Dabei kann auch berücksichtigt werden, dass die Inhalte und Methoden in den unteren Klassen anderes erfordern als in den oberen. Gerade auch für die Arbeit in Projekten hat sich die flexible Absprache in den selbstorganisierten Teams als günstig erwiesen.

Insgesamt hat sich der neue Ansatz der verstärkten Teamarbeit bewährt und auch während der Einschränkungen durch die Corona-Maßnahmen gut durchgetragen.

Im folgenden Beitrag eine aktuelle Auswertung der Erfahrungen einer beteiligten Lehrerin.

In Kleingruppen den Anforderungen gerecht werden

Kyra Leimegger Chiusole

Unsere Ausgangssituation: wöchentliche Gesamtkonferenzen von dreieinhalb Stunden, bei denen die Zeit nie ausreichte, da Fragen zu Unterricht, Klassensituation, Schülerbesprechungen und Schulorganisation in der großen Gruppe nicht zu bewältigen waren. Wir bemühten uns redlich um Struktur, disziplinierte Arbeitsweise und Aufgabenverteilung, trotzdem schafften wir das Pensum selten bis nie. So wichtig es schien, über alles Bescheid zu wissen, Meinung und Eindrücke äußern zu können, so unbefriedigend war es, dann immer hinterherzuhinken und nie all das zu schaffen, was man sich gewünscht und vorgenommen hatte. Die Unzufriedenheit wuchs angesichts allseitigen Bemühens und steigender Hilflosigkeit.

Vermehrt kam nun der Wunsch auf, im jeweiligen Klassenverband in kleinen Kerngruppen zu arbeiten, um vor allem den pädagogischen Anforderungen gerecht zu werden und in einen engeren Austausch mit den in der jeweiligen Klassengemeinschaft tätigen Kollegen zu treten. Die Bereitschaft, damit auch mehr Verantwortung in kleinen Gruppen zu übernehmen, war von Anfang an bei allen vorhanden. Trotzdem wollte man weder die Gesamtkonferenz als sozialen Ort des Informationsaustausches, der Vergabe von Aufgaben und dementsprechender Verantwortung, vor allem aber der spürbaren gemeinschaftlichen Verbundenheit aufgeben, noch einen zusätzlichen Konferenztag einführen. Die schulinterne Fortbildung mit Michael Harslem gab uns die letzten Inputs, um eine Umstrukturierung unserer Konferenzarbeit anzugehen. Mit Abschluss des ersten Semesters wollten wir nun eine Evaluierung der bisherigen Erfahrungen vornehmen.

Die erste Frage lautete:

  • Welche Erfahrungen haben wir bis jetzt mit der Teamarbeit gemacht und wie geht es uns damit?
  • Nach Meinung aller ist die neue Struktur der Donnerstagnachmittage sehr gewinnbringend.
  • Die Teams bieten die Möglichkeit, zu zweit, manchmal auch zu dritt Verantwortung für eine Lerngruppe zu tragen. Dies entlastet die Klassenlehrer und führt zu einem Zuwachs an Effizienz, zeitnahem Handeln, Erweiterung der Sichtweise und Ideenbildung.
  • Es wird ausführlicher über besondere Klassensituationen und die einzelner Schüler gesprochen; die Schüler stehen im Mittelpunkt.
  • Es können Dinge geklärt und Entscheidungen getroffen werden, ohne dass das ganze Kollegium einbezogen werden muss.
  • Die Zeit wird produktiv genutzt und nicht verschwendet.
    Die Zusammenarbeit erstreckt sich nicht nur auf den Donnerstag, sondern auf die ganze Woche.
  • Unterrichtsinhalte können zwischen den Beteiligten besser ausgetauscht werden, da die Lehrer in beiden Teams dieselben sind.
  • Insgesamt ist eine größere Lebendigkeit in den Teamsitzungen und eine effizientere Arbeitsweise in der Gesamtkonferenz wahrnehmbar.

Was gilt es zu verändern und zu verbessern?

  • Das neue Konzept und der routinemäßige Umgang mit ihm ist für einige noch ungewohnt.
  • Einzelne Lerngruppen werden als »unterversorgt« wahrgenommen, da es neben den Klassenlehrern kein kontinuierliches Kernteam gibt.
  • Sprachlehrer können wegen der parallelen Struktur der Teamsitzungen noch nicht überall adäquat dabei sein.
  • Um den Epochenwechsel noch besser zu gestalten, könnten die jeweiligen Teams schon eine Woche vorher in der neuen Zusammensetzung arbeiten.
  • Es besteht auch der Wunsch, nach Abschluss der Epoche in den Teams eine Nachbesprechung zu machen.
  • Um an besonderen Themen anderer Lerngruppen teilhaben zu können, soll in der Gesamtkonferenz kurz über Wichtiges berichtet werden.
  • Es wäre schön, am Ende der Epochen in der Gesamtkonferenz ein kurzes Resümee über Inhalt und Verlauf mitzuteilen bzw. zu erfahren.

Einige Lösungsansätze wurden kurz erwogen und man einigte sich schnell darauf, wo nötig, nachzubessern. Dies werden wir in der nächsten Gesamtkonferenz genauer besprechen. Es bleibt auf jeden Fall ein spannender Prozess, in den wir alle aktiv involviert sind. Eine weitere Auswertung wird am Ende des Schuljahres stattfinden.

Zur Autorin: Kyra Leimegger Chiusole ist Lehrerin für Handarbeit, Kunst, Deutsch und Geschichte.

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