Teil der Natur – und doch selbstbestimmt

Sven Saar

Am zwölften Tag des »Ersten Lehrerkurses« gibt Rudolf Steiner dem angehenden Kollegium in den praktischen Kursen sehr genaue Vorschläge, wie man einzelne Fächer unterrichten könnte: Man merkt, der Schulanfang steht kurz bevor, und die Sache muss anschaulich werden. Immer wieder empfiehlt er, vor allem in der Mittelstufe den Unterricht so weit wie möglich am praktischen Leben zu orientieren.

Dass es Menschen gibt (im Jahre 1919), die täglich Straßenbahn fahren, aber nicht verstehen, wie diese Erfindung eigentlich funktioniert, hält Steiner für hochproblematisch. Er ermutigt die Lehrer, sich selber Kenntnisse über den Aufbau alltäglicher Geräte zu verschaffen, und diese mit den Schülern dann auch durchzunehmen.

Im anthropologischen Morgenvortrag zur »Allgemeinen Menschenkunde« charakterisiert Steiner noch einmal Kopf, Brust und Gliedmaßen und macht überraschende Aussagen. Er assoziiert unseren Kopf und seine Funktionen mit Gebärden aus der Tierwelt, das rhythmische System mit den Pflanzen und Arme und Beine mit mineralischen Kräften, die alle in ihrer Wirksamkeit durch das rein Menschliche unserer Organisation in der geistigen Sphäre bleiben und sich nicht ihrer natürlichen Tendenz gemäß ausleben können. Sonst, so Steiner, wäre der Kopf viel tierhafter, würden vegetative Prozesse in unserer Mitte wuchern und aufgenommene Salze im Körper wieder auskristallisieren. Bei menschlichen Krankheiten kann man einige dieser Prozesse im Ansatz beobachten: So haben Gicht und Diabetes mit der Tendez zum Kristallinen zu tun, und für alle Krankheiten im rhythmischen System findet man irgendwo in der Pflanzenwelt ein äußerliches Bild. Letzteres Prinzip setzt vor allem die anthroposophische Medizin seit Jahrzehnten zur Behandlung ein. Das Mistelpräparat »Iscador« für Krebskranke ist da nur eines von vielen Beispielen.

Dass animalische Tendenzen aus dem Gleichgewicht geraten, kommt weniger in körperlichen als in seelischen Erkrankungen zum Vorschein. Viele psychische Einseitigkeiten, von der Manie über die Depression bis zur Sucht, lassen sich anhand von Bildern aus dem Tierreich besser verstehen. Aber auch im Gesunden gibt es viele Zusammenhänge, denen man, von der »Menschenkunde« angeregt, nachgehen kann: So ist in Tieren der Kopf stark nach vorne ausgerichtet. Die Gestaltungkraft des Schädels konzentriert sich in seiner Hauptfunktion, der Nahrungsaufnahme: Schneidezähne, Reißzähne, starke Unterkiefer zum Zermahlen. Beim Menschen hat der gleiche Impuls den Hinterkopf ausgebildet, und das verhältnismäßig viel größere Gehirn. Was an Bildekräften beim Tier das Skelett gestaltet, erlaubt dem Menschen die Vorstellung: Aufs Genaueste kann ich in meiner Phantasie einen Bleistift, einen Drachen, einen Engel entstehen lassen und ihnen jede gewünschte Farbe und Größe geben.

Die instinktive Intelligenz des Tierreichs haben wir nicht. Wölfe lassen sich bei der Jagd von einer »Gruppen­seele« leiten, das einzelne Tier weiß dabei nicht, was es tut. Beim Menschen ist die Intelligenz individualisiert – was uns frei macht, verhindert zugleich, dass wir gedankenlos mit anderen agieren. Von der effektiven Zusammenarbeit jagender Wölfe mag man in vertrackten Lehrerkonfer­enzen gelegentlich träumen. Es ist eben schwieriger, Mensch zu sein – das ist der Preis, den uns unsere evolutionäre Stellung abfordert. Umso mehr Anregung, in der Schule dafür zu sorgen, dass sowohl Lehrkräfte wie auch Kinder aufmerksame, sozialfähige Weltbürger werden.