Tiere und Kindergarten

Oktober 2021

Im Gespräch mit Manfred Schulze, der als Erzieher und Landwirt auf dem Hof Hauser in Wolfhagen bei Kassel arbeitet. Als Erziehungswissenschaftler und Mitbegründer der »Arbeitsgemeinschaft Handlungspädagogik« hat er zusammen mit seiner Partnerin Nicole Lillie Fortbildungen für Pädagogen und Landwirte zur gegenseitigen Befruchtung ihrer Arbeit organisiert.

Foto: @ photocase.de / bit.it

Hinweis: Der Artikel erschien im Sommerheft 2021 der Zeitschrift »Frühe Kindheit«. Das Heft können Sie hier bestellen. Hefte, die älter als ein Jahr sind, stehen in unserem Archiv zum Download für Sie bereit.


Frühe Kindheit | Welche Bedeutung hat die Natur für den Menschen?

Manfred Schulze | Natur hat heute Konjunktur. Das Bedürfnis nach möglichst unverfälschter Natur steht aber in einem krassen Missverhältnis zu unserem Umgang mit der Erde, den Pflanzen und den Tieren. Wir stellen ja gerade fest, dass es in dieser »Natur« keine abgegrenzten Bereiche gibt. Alles kommuniziert miteinander und ist im Austausch – auch mit den Menschen. Da gibt es kein Innen und Außen. Solange die Menschen noch ein Bewusstsein von dieser gegenseitigen Abhängigkeit hatten, haben sie ihre Lebenswelt gepflegt und, um einen alten Begriff zu benutzen, den Boden und die Bäume und die Tiere »geübt«. Da war ein traumhaftes Verstehen, dass es nur eine Welt gibt und nur eine Gesundheit und nur einen Seelenraum.

Aus diesem gemeinsamen Seelenraum führte man auch die Tiere.

FK | Das geht heute so nicht mehr?

MS | Nein, aus diesem Traum sind wir erwacht. In der unbelebten Welt sind wir »ungeheuer« denk- und handlungsmächtig geworden. Die Folgen kommen auf uns zurück. Die lebendige Welt können wir aber so nicht begreifen, weil wir von außen darauf blicken, obwohl wir innen sind. Auch der Umwelt- und Naturschutzbegriff ist fragwürdig.

FK | Tragen Umweltschutz und im Kindergartenbereich die Naturpädagogik nicht zu einem besseren Umgang mit der Natur bei?

MS | Der Begriff der »Umwelt« zeugt von einer falschen Abgrenzung und der Umweltschutz, der den Menschen und seine Naturpflege und Arbeit aus den Schutzgebieten vertreiben will, ist die Kulmination eines Begriffes von Natur, die dem zivilisierten Lebensraum des Menschen entgegengesetzt gedacht wird. So entstand ein künstlicher Begriff von Natur als Sehnsuchtsort, wo sich die industriell monotonisierte und entfremdete Seele noch erbauen könne. Naturpädagogik oder »Wildnis«-Pädagogik will den Kindern davon etwas nahebringen.

Das zeugt von einer eher naiven Denkungsart, mit der man auch glaubt, das Weltklima mit denselben Denk-Mitteln wieder fügen zu können, mit denen man es aus den Fugen gehoben hat.

Doch der Klimaumbruch, der Verlust der Vielfalt der Arten, die Vergiftung der Lebenswelt und Nahrungsmittel lässt keinen naiven oder nur erbaulichen Blick auf »Natur« oder »Wildnis« mehr zu.

FK | Was wäre dann zu tun?

MS | Wir haben vor zwanzig Jahren begonnen, eine Handlungspädagogik zu entwickeln, um die Weiterführung der viele tausend Jahre währenden Kulturarbeit des Menschen an der Erde, den Pflanzen und den Tieren wieder in die Hand zu nehmen. Dazu ist eine neue personale Begegnung und Kommunikation mit den Naturreichen nötig. Da ist dann nur mehr Innenwelt!

Das geübte menschliche Bewusstsein ist dann der »Ort«, an dem durch die arbeitsame Pflege und achtsame Betrachtung die »Natur« sich ihrer selbst bewusst wird. Durch Pflege wird ein Arbeitsstrom fortgesetzt, durch kreative Arbeit kann eine Neugestaltung beginnen. Aus dieser tätigen Verbundenheit richtet sich die Zukunftsarbeit auf die »Persönlichkeitsentwicklung« in den Naturreichen. Vor diesem Hintergrund kann man auch den Umgang mit den Tieren besser verstehen.

FK | Soll man im Kindergarten Tiere halten?

MS | Die Frage zielt in eine problematische Richtung, wenn man extra für Kinder Tiere anschafft. Die Tiere sollten ja keine zusätzlichen Erzieher oder Therapeuten sein oder lebendige Objekte einer neuen Natürlichkeit. Auch sollte ein Bauernhof kein Lernort werden, sondern besser machte man den Kindergarten oder die Schule zu einem Lebensort. Die Tiere werden sonst ganz schnell mit weiteren zusätzlichen Nutzungsaufgaben belastet!

Die Frage kann eher lauten: Wer will mit uns zusammenarbeiten, welchen Ort können wir so vorbereiten, dass Tiere kommen können. Und welche könnten das dann sein?

FK | Wie sähe dann so eine Vorbereitung des Raumes aus?

MS | Zunächst sind ja auch in der Stadt schon Tiere vor der Haustür oder man hat einen Garten und dort sind dann die Maulwürfe oder Regenwürmer tätig und die Vögel kann man hören. Die sind sich aber zunächst selbst genug. Erst wenn der Mensch sich einfühlt und erkennend zuwendet, beginnt eine neue Art der Zusammenarbeit. Und dann kann der erwachsene Mensch aus dieser Einsicht etwas Zusätzliches für dieses Tier tun.

Man kann Hecken pflanzen oder »Brennnessel-Futter« für Schmetterlinge anbauen. Vogelhäuser oder Kompostpräparate oder der pflegende Umgang mit den Elementen schaffen neue Wohnorte für die Tiere. Die Kinder können an solchen Pflegearbeiten mitwirken. Wo ist Licht oder Schatten oder Feuchte? Man kann diese Orte »freilegen« und damit Elemente und Tiere hereinrufen. Kinder können dabei erleben, dass die Schaffung eines äußeren gepflegten und eines inneren Aufmerksamkeits-Raumes die Lebensräume der Tiere mit den Lebensräumen der Menschen wieder verbinden.

FK | Kann man auch ein Haustier für den Kindergarten anschaffen?

MS | Jedes Haustier braucht unbedingt einen erwachsenen Menschen, der ständig präsent sein muss und für die Gesundheit und Geborgenheit der Tiere Sorge trägt. Da muss ein äußerer und innerer Raum sein. Das Wichtigste an der Tierbegegnung ist ja die Beziehungsaufnahme und »Berührung« zwischen den Seelenräumen. Und das muss man dem Kind vorleben.

Ich kenne Kollegen, die nehmen ihren Hund mit in den Kindergarten. Der hat dort in einem sozialen Brennpunkt der Stadt aber eine ganz andere Bedeutung bekommen, als zunächst gedacht. Er macht nämlich die muslimischen Kinder und deren Eltern mit unserer ganz anderen Kultur und Umgangsweise mit dem Hund vertraut.

Das Stichwort dazu ist Zusammenarbeit mit dem Tier! Dabei stehen aber auch die Bedürfnisse des Tieres im Mittelpunkt, z.B. nach Ruhe und Rückzugsmöglichkeiten. Aber der Hund ist natürlich die besondere Verkörperung von Beziehungsaufnahme! Da kann dann aber für kleinere Kinder die Beziehungsaufnahme zu einem größeren Tier auch schnell zu viel werden.

FK | Was muss man bei der Begegnung von Kindergartenkindern mit Tieren beachten?

MS | Gerade die jüngeren Kindergartenkinder sind auf eine tiefe moralische Weise mit der Welt verbunden. Das heißt, im Hintergrund ist immer die Frage: Ist das, was in meiner Umgebung lebt, wirklich gut? Und da kann man sich schon mal klar machen, dass jedes Tier in sichtbarer dauerhafter Gefangenschaft im Käfig oder Aquarium eine Geste der Übergriffigkeit zeigt. Deshalb muss man auch bei einem Besuch auf einem Bauernhof beachten, wie die Tierhaltung und die Umgangsweise dort aussieht. Schon der Anblick unserer Ziegen im Melkstand bedarf der Einbettung in einen größeren Zusammenhang mit freiem Lauf auf der Weide, um nicht bedrückend zu wirken. Älteren Kindern kann man dann schon mit Worten erklären, wie der Mensch die Gefangenschaft durch soziale Zuwendung kompensieren und vielleicht sogar legitimieren kann.

Wenn man nun z.B. Angorakaninchen in den Kindergarten holt, um sie als wirkliche Nutztiere zu einer außergewöhnlich guten und besonderen »Wollherstellung« zu nutzen, dann ist der gesamte Umraum der Käfighaltung, der ausgiebigen Freilaufmöglichkeiten, der Anlage von Gängen und das Buddeln in der Erde zu bedenken. Also Tierhaltung und ihre Pflege ist zu allererst Denkaufgabe, ein Studium der Bedürfnisse. Wie sieht dann die Schur aus? Da ist ein Können gefragt, damit die Situation nicht übergriffig wird. Es gibt Satinangoras, die man nur auskämmen muss.

Und dann sterben auch alte Tiere oder man muss sie vorher schlachten. Da ist im Vorfeld eine Kommunikation mit dem elterlichen Umfeld unbedingt notwendig. Also die Tiere fördern und fordern die soziale Zuwendung untereinander.

FK | Was bedeutet »soziale Zuwendung« für Tiere?

MS | Man kann das vielleicht an der gerade aufgeworfenen Problematik des Todes und des Tötens bedenken. Denn nirgendwo liegen Leben und Tod so nah beieinander wie im Umgang mit den Haus- und Nutztieren. Die Geburten der Kälber, Lämmer und Küken und Häschen berühren und erfreuen alle zutiefst. Um aber einen bewussteren Umgang mit den Tierseelen zu entwickeln, ist es ebenso wichtig, immer einzelne besondere und wache Tiere in den Alterstod zu begleiten. Dieses »Gnadenbrot« und die intensive Sterbebegleitung schließt im Bewusstsein des Menschen einen Sinn dafür auf, dass es eine Verantwortung und Berechtigung gibt, andere Tiere einer Herde zur Nutzung zu schlachten.

Die Pflege eines Kontaktes mit einer Herdenseele ermöglicht auch über den Tod hinaus, ganz anders zu denken und zu sprechen, als es in unserer den Tod eher meidenden und fürchtenden Gegenwartsgesellschaft üblich ist.

Das muss man auch bedenken, wenn man üben und lernen will, mit Tieren wieder enger zusammen zu leben. Wir haben ja fast vergessen, dass die Haustiere seit vielen tausend Jahren im Kulturraum des Menschen ihr Leben verbringen und teilhaben an seiner Kulturentwicklung. Die läuft aber gerade besonders deutlich bei der Tiernutzung aus dem Ruder, weil wir heute ja Kulturentwicklung mit Wirtschaftswachstum gleichsetzen. Ich meine aber die Fürsorge für die Tiere oder vielleicht sogar ihre Erziehung zu einem anderen und wacheren Bewusstseinszustand.

FK | Wie können Kinder an dieser Zuwendung teilhaben?

MS | Wenn ein Kindergarten an einen Hoforganismus angegliedert ist, dann bekommen die Kinder ja immer mit, was da so geschieht und können eine große Befriedigung dabei erleben, bei der Futterbeschaffung oder der Fütterung dabei zu sein. Sie erleben auch, wie die Erwachsenen mit den Tieren umgehen, sie führen und mit ihnen arbeiten. Wenn diese Menschen dann noch eine pädagogische Idee im Umgang mit den Tieren verwirklichen, wird es besonders fruchtbar und spannend. In einer engen Beziehung zum Menschen können Tiere eine Individualisierung erfahren und Merkmale einer Persönlichkeit entwickeln. Das kann für Kinder und ihre eigene Persönlichkeitsentwicklung eine wirkliche Verwandtschaftserfahrung bedeuten. Das wird dann durch die Teilhabe an den Aufgaben der Pflege und Versorgung noch vertieft. Daran wird auch klar, dass das Tier nicht für den Menschen da ist, sondern auch und zuerst der Mensch für das Tier.

Wenn man keinen Hof in der Nähe hat, sondern selber z.B. Hühner halten will, dann wird diese Raumvorbereitung ebenfalls ganz wichtig sein.

Wo ist Licht und Sonne? Diese Vogeltiere sind Lichtwesen! Wo ist ein Futterplatz. Wo ist es feucht und schattig und erdig zum Scharren und Putzen und Ruhen? Zuerst ist da also die Beschäftigung mit den Elementen. Dann sollte man auch bereit sein, den eigenen Lebensrhythmus mit dem der Tiere zu verbinden: »Mit den Hühnern aufstehen« und im Winter darauf achten, dass sie schon früh auf der Stange sitzen. Diese Öffnung und Vorbereitung des elementaren Lebensraumes, die Pflege und Fürsorge sind die Vorbedingungen für einen pädagogischen Umgang mit den Tieren.

FK | Was bedeutet es, pädagogischen Umgang mit Tieren zu haben?

MS | Wenn für die Gesundheit der Tiere gesorgt ist und für gute Gewohnheiten, dann wird durch all die damit zusammenhängenden Arbeiten eine gute Beziehung zu den Tieren aufgebaut.

Die Tiere kommen zum Menschen, weil es dort »gut« ist. Sie verlieren ihre Angst, werden vertraut und »beehren« mich damit, auf meine Hand zu fliegen. Das sind dann Momente der Gegenwärtigkeit und des Glücks! Diese mit dem Menschen vertrauten Tiere sind dann z.B. selbstverständlich bei den Festgestaltungen eingebunden.

Wir erleben ja heute im Umgang mit den Haustieren eine entgegengesetzte Bewegung. Man spricht von artgerechter Haltung und meint dann damit eine Art der Auswilderung. Damit entfernt sich der Mensch vom Tier. Die andere Richtung geht dahin, in den Tieren ihre Entwicklungsmöglichkeiten zu erkennen. Tiere sind eigentlich fortgesetzt in einem Kindheitsstadium. Man kann das pflegen durch Abbau von Angst. Dann entsteht eine ungeheure Lernbereitschaft. Man kann z.B. mit Kühen oder Ziegen Kutsche fahren üben und bei diesen Erziehungsaufgaben eine größere Nähe und Vertrautheit bekommen.

Auch alte, lange an den Menschen gewöhnte Tiere haben dieses wirkliche Interesse am Menschen. Sie warten auf den Menschen!

Dieses Zutrauen oder Vertrauen spüren dann die Kinder und das erleichtert die Annäherung. Auch bei den Tieren ist eine Entwicklung zu größerer Individualität spürbar und eine Erwartung zu vertiefter Zusammenarbeit. Das muss man miteinander üben. Und übende Seelen sind für Kinder ideale Räume.

FK | Wie begegnen sich Tiere und Kindergartenkinder auf Ihrem Hof?

MS | Wenn bei uns der Kindergarten seine Arbeit beginnt, sind ja die 70 Tiere schon da, sie sind den Umgang mit älteren Kindern und Jugendlichen gewohnt und es gibt viele erwachsene Menschen, die sich stetig kümmern. Da ist ein anhaltender Willens- und Versorgungsstrom, in den die Kindergartenkinder eintauchen können. Das ist natürlich ideal. Das ist das Vor-Bild. Da ist nichts extra für Kinder gemacht! Aber, was auch wichtig ist: Die Tiere sind ganz tief in ihrer Gewohnheit auf den Menschen und auch auf Kinder bezogen. Auf einem Hof, wo die Tiere das nicht kennen, kann auch viel schief gehen. Ganz wichtig ist die selbstbestimmte Nähe oder Distanz! Das gilt für beide Seiten! Wir kennen auch Kinder, für die die Tiere zu viel Beziehungsaufnahme erfordern. Die gehen lieber in den Garten! Tierbegegnungen sind nicht von selbst und immer schon an sich etwas Gutes! Sie müssen begleitet und vorbildlich vorgelebt werden, dann erschließt sich ein unermesslich vielfältiger Seelenraum! Und – vielleicht muss man das nicht extra sagen, die direkte Berührung mit der Hand und mit der Seele kann man nicht simulieren oder durch ein Medium übermitteln. Nur in dieser unvermittelten Berührung findet eine Art der seelischen Ernährung und zwar gegenseitig statt, die viele Menschen und die allermeisten Haustiere heute schon gar nicht mehr kennen.

Weitere Informationen und Texte zur Handlungspädagogik auf: hofhauser.de

 

 

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