Steiners überraschender Auftrag

Sebastian Lorenz

In Thailand und Indonesien wurden mit deutscher Hilfe bis 2008 zuverlässige Tsunamiwarnsysteme errichtet und die Bauweise der Häuser wurde so angepasst, dass die Wassermassen unter den inzwischen fest verankerten, erhöht stehenden Gebäuden hindurchströmen können, ohne größere Schäden anzurichten. Überall wurden Rettungsleitern und Stege gebaut. Was wäre, wenn wir uns in ähnlicher Weise anpassen könnten in Bezug auf die Technologie der Zukunft: von ahnungslos zu vorgewarnt? Denn was immer schneller und schneller auf uns zukommt: die Verbindung des Menschen mit dem Computer, der Maschine, wird alle gegenwärtigen Vorstellungen übertreffen und kann uns beschädigen wie ein Tsunami. Was wäre wenn? Der Begründer der Waldorfpädagogik hat uns eine solche Tsunamiwarnung für die Technologie schon vor etwas über 100 Jahren gegeben!

»Maschinentiere«

Als Rudolf Steiner im November 1917 nach Dornach zurückkehrte, nachdem er den Sommer über vergeblich versucht hatte, die politischen Entscheidungsträger in Berlin zum Friedensschluss zu bewegen, stellte er seinen Zuhörern am 25. November 1917 (GA 178) dar, wie sich die Menschheit in Bezug auf die Technologie verändern wird. Einleitend sagte er, dass in der Zukunft der Versuch bevorstehe, »das Geistig-Ätherische in den Dienst des äußeren praktischen Lebens zu stellen«. Dazu würden »menschliche Stimmungen, die Bewegung menschlicher Stimmungen ... in Wellenbewegung auf Maschinen übertragen ...«. Und es werde »aus amerikanischer Denkweise heraus versucht …« werden, »das Maschinelle über das Menschenleben selber auszudehnen.«

Steiner deutete damit eine Weltzeit an, in der Mensch und Maschine eins würden, in der »die Menschenkraft ... mit Maschinenkraft« zusammengespannt werde. Und als würde er den Widerspruch der braven Anthroposophen in der Zuhörerschaft spüren und gleich ansprechen wollen, fuhr er fort: »Diese Dinge dürfen nicht so behandelt werden, als ob man sie bekämpfen müsste. Das ist eine ganz falsche Anschauung. Diese Dinge werden nicht ausbleiben, sie werden kommen.«

Steiner geht in seiner Skizzierung einer mechanisierten und vom Maschinenwesen beherrschten Menschheits­zukunft viel weiter als mancher Futurologe – er weist hin auf Wesen, die er »Maschinentiere« nennt. Nur macht er gleich zu Beginn dieser durchaus beängstigenden und erstaunlichen Vorhersage eine entscheidende Bemerkung, mit der er das Unausweichliche dieser stark technisierten und mechanisierten Menschheitszukunft unmittelbar an den Strom der menschheitsgemäßenen, guten Kräfte in der Weltentwicklung anschließt:

»Es handelt sich nur darum, ob sie [diese Dinge, die kommen werden] im weltgeschichtlichen Verlaufe von solchen Menschen in Szene gesetzt werden, die mit den großen Zielen des Erdenwerdens in selbstloser Weise vertraut sind und zum Heil der Menschen diese Dinge formen, oder ob sie in Szene gesetzt werden von jenen Menschengruppen, die nur im egoistischen oder im gruppenegoistischen Sinne diese Dinge ausnützen. Darum handelt es sich. Nicht auf das Was kommt es in diesem Falle an, das Was kommt sicher; auf das Wie kommt es an, wie man die Dinge in Angriff nimmt. Denn das Was liegt einfach im Sinne der Erdenentwickelung. Die Zusammenschmiedung des Menschenwesens mit dem maschinellen Wesen, das wird für den Rest der Erdenentwickelung ein großes, bedeutsames Problem sein.«

Es handelt sich hier nicht um ein Ereignis in ferner Menschheitszukunft, sondern um ein »großes, bedeutsames Problem«, das den »Rest der Erdenentwickelung« betrifft. Die Menschen, die hier Erkenntnisbeiträge und Entwicklungshilfen leisten wollen, sollten und müssten sich, so Steiner, mit den Geheimnissen von Krankheit und Tod, von Geburt und Zeugung sowie mit den Bedingungen einer spiritualisierten Medizin und Volkswirtschaft auseinandersetzen. Hier ist noch viel Vorbereitungsarbeit zu leisten, indem Unternehmer, Ökonomen, Technologen und Ingenieure von anthroposophischer Geisteshaltung mit Hebammen, Therapeuten und Ärzten aller Fächer zusammenarbeiten. Ähnlich wie dies für Priester und Ärzte in der anthroposophischen »Pastoralmedizin« angelegt wurde oder wie es im Bankenwesen bereits umgesetzt ist, könnte künftig eine anthroposophisch orientierte IT-Branche entstehen.

Bisher wurden die hier zu leistenden Arbeiten unterlassen, vielleicht weil im gleichen Vortrag wenig später gesagt wird: »Heute kann nicht mehr geleistet werden, als dass von diesen Dingen geredet wird, bis die Menschen sie genügend verstanden haben werden, jene Menschen, die geneigt sind, sie in selbstlosem Sinne aufzunehmen.« Es ist aber heute bereits so weit: Die Welle der noch kommenden Technologie hat sich am Horizont zu solch gewaltiger Höhe aufgetürmt, dass es nach über 100 Jahren jetzt wohl an der Zeit ist, die Wellenwarnung umzusetzen. Die Waldorfschulen und Rudolf-Steiner-Schulen in aller Welt und in ihnen
besonders die Oberstufenlehrer für Naturwissenschaften und Mathematik könnten hier einen wunderbaren Beitrag leisten, indem sie die Begabungen ihrer Schüler, die in diese Richtung gehen, noch sorgfältiger suchen und fördern. Unsere Schulbewegung leidet noch immer an dem gelegentlich hörbaren Vorurteil, die Waldorfpädagogik bevorzuge das musisch und sprachlich begabte Kind und fördere es weit besser. Aber eine gesund verzögerte Intellektualisierung junger Menschen, wie sie als ein Kernprinzip unserer Pädagogik gelebt wird, schließt die Begeisterung für Natur und Technik sowie den souveränen Umgang mit Technologie ab der Mittelstufe überhaupt nicht aus.

Keine Angst vor der Technik

Aus dem oben angeführten Vortrag vom 25. November 1917 mit seiner vielleicht auch erschreckenden Zukunftsvision können wir ganz technologie-positiv und zukunftsfreudig auch einen Auftrag herauslesen, der überraschen mag: Dass »in Szene gesetzt werde [diese Fusion von
Lebendigem und Maschinellem von solchen Menschen], die mit den großen Zielen des Erdenwerdens in selbstloser Weise vertraut sind und zum Heil der Menschen diese Dinge formen«. Denn Erziehung zur Freiheit ist nichts anderes, als die Welt aus einer Vertrautheit mit den
großen Zielen der Menschheitsentwicklung und zum Wohl der Menschen gestalten zu lernen.

Für uns Heutige kann es also zunächst darum gehen, als Eltern, Lehrer und Bürger immer mehr Sachkunde anzustreben und uns nicht zufrieden zu geben mit
dem Teilwissen um die wesentlichen Entwicklungen der neuen Technologien. Das befreit von der Angst und gibt uns die Möglichkeit, das was kommt, einzuschätzen. Unsere Kinder werden uns in dem angstfreien Interesse an dem, was da ist, gerne folgen. Websites wie techcrunch.com und wired.com helfen hierbei weiter, ebenso wie das neue Buch von Nicanor Perlas, Der letzte Kampf der Menschheit – Antworten der Geisteswissenschaft auf die Künstliche Intelligenz.

Auch wird es sich lohnen, immer wieder die (wenigen?) Waldorfschüler, die dazu geneigt und geeignet sind, noch energischer und begeisterter in die technologischen Fächer einzuführen und sie darin zu fördern: Mit »STEM – Science, Technology, Engineering, Mathematics« bezeichnet das amerikanische Bildungssystem diese Fächer, in denen Waldorfschüler zu Unrecht immer noch als eher schwach gesehen werden, obwohl mit Thomas Südhof 2013 erstmals ein Nobelpreisträger aus ihren Reihen hervorgegangen ist. Waldorfschüler als kritische Programmierer bei Facebook, als Leiter einer Abteilung bei Amazon oder als Entwickler bei Apple könnte ein mittel­fristiges Ziel bis 2035 sein.

Zum Autor: Dr. med. Sebastian Lorenz war Waldorfschüler und ist Arzt mit dem Fachgebiet Allgemeinmedizin und Psychiatrie/Psychotherapie. Stationen als Assistenzarzt, später in der Privatwirtschaft als Manager, am Priesterseminar Stuttgart, als Oberstufenlehrer an der Freien Waldorfschule am Bodensee und als Psychiater in der Bundeswehr (Marinesanitätsdienst). Heute in freier Praxis tätig in Berlin.

Im Mai 2020 erscheint das im Beitrag erwähnte Buch von Nicanor Perlas, Der letzte Kampf der Menschheit. Die Antwort der Geisteswissenschaft auf die Künstliche Intelligenz, im Verlag Urachhaus. Perlas ist u.a. Träger des Alternativen Nobelpreises und Mitglied der Artificial Intelligence Task Force an der University of Vermont.