Über das Rationale in der Medizin

Peter Heusser

Die geisteswissenschaftliche Forschung setzt zweierlei voraus: eine erweiterte (übersinnliche) Wahrnehmungsfähigkeit und die Anwendung des für die Naturwissenschaft geltenden Erkenntnisprinzips auf die übersinnliche Wahrnehmungswelt. Die medizinischen Konzepte der Anthroposophie beziehen sich auf das Wirken je besonderer Klassen von Kräften und Gesetzen im Physischen, Lebendigen, Seelischen und Geistigen des Menschen und der Natur. Sie werden durch eine eigene Nomenklatur vermittelt, die noch sehr von den Konzepten und Denkgewohnheiten der konventionellen Medizin abweicht. Es ist deshalb psychologisch verständlich, dass der anthroposophischen Medizin oft eine erhebliche Skepsis, wenn nicht gar Ablehnung entgegengebracht wird. Wie soll man sich von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus zu diesen Konzepten verhalten, insbesondere wenn man bedenkt, dass die übersinnliche Erkenntnis, auf die da rekurriert wird, sicher nicht eine allgemein verbreitete Fähigkeit darstellt, sondern durch eine besondere geistige Schulung erst erworben werden soll? Sind diese Konzepte gläubig hinzunehmen, ist die anthroposophische Medizin eine Weltanschauungsmedizin, deren Konzepte unüberprüfbar sind und die deshalb außerhalb der wissenschaftlichen Medizin anzusiedeln ist? 

Zweifache Überprüfung möglich

Steiner selbst hat sich zu solchen Fragen klar geäußert. Für sein grundlegendes Werk »Die Geheimwissenschaft im Umriss« zum Beispiel wünschte er vor allem Leser, die nicht gewillt sind, auf blinden Glauben hin die vorgebrachten Dinge anzunehmen, sondern die sich bemühen, das Mitgeteilte an den Erkenntnissen der eigenen Seele und an den Erfahrungen des eigenen Lebens zu prüfen. Er möchte vor allem vorsichtige Leser, die nur das logisch zu Rechtfertigende gelten lassen.

Der Leser soll also anhand der eigenen Erfahrung und der Logik des mitgeteilten Inhaltes urteilen – beides Elemente, die jedem Erkennen und jeder Wissenschaft zugrunde liegen. Eine direkte Überprüfung wäre freilich nur jemandem möglich, der sich aufgrund eigener übersinnlicher Erkenntnisfähigkeit eine empirische Anschauung übersinnlicher Tatbestände, also etwa des Ätherleibs und seiner Tätigkeiten, verschaffen könnte, was offenbar nicht jedem gegeben ist. Aber Steiner meint hier nicht nur die geisteswissenschaftliche Prüfung durch übersinnliche Forschungs-methoden, sondern vor allem durch vorurteilsloses Denken und gesunden Menschverstand.

Denn die empirische Geisteswissenschaft, wie Steiner sie versteht, muss ja die geistigen Wahrnehmungen ebenso ihren Gesetzen nach begreifen wie die Naturwissenschaft die physischen, und die gefundenen Resultate in Gedankenform darlegen. Und da das Gedankliche grundsätzlich der Logik unterliegt, muss und kann jeder beliebige geisteswissenschaftliche Inhalt einer logischen Prüfung unterworfen werden.

Doch die Logik allein genügt nicht. Denn es könnte ja sein, dass jemand durch rein gedankliche Konstruktionen ein logisch in sich stimmiges Weltbild aufbaute, unabhängig von der empirischen Wirklichkeit, das dennoch für diese gar keine Bedeutung hätte. Deshalb weist Steiner wiederholt auf die Notwendigkeit hin, dass wissenschaftliche Aussagen nicht nur auf ihre Logik, sondern immer auch auf ihre Wirklichkeitsgemäßheit hin geprüft werden müssen.

Doch wie soll eine anthroposophisch-geisteswissenschaft­liche Aussage auf ihre Wirklichkeitsgemäßheit hin, also an der empirischen Wahrnehmung, geprüft werden, wenn eine solche Wahrnehmung für den Prüfenden gar nicht vorhanden ist? Dann ist eine indirekte Prüfung nötig und möglich, nach der Art, wie das überhaupt in einem Gebiet wie der Medizin üblich ist, auch in naturwissenschaftlicher Hinsicht. Denn das Wenigste von dem, was ein Medizinstudent und später ein Arzt lernt und in der Praxis oder in Studien anwendet, ist von ihm selbst empirisch gefunden worden. Er studiert in Gedankenform, was systematisch forschende Spezialisten auf Grund ihrer – eventuell auch apparativ erweiterten – Wahrnehmung gefunden und erkannt haben, beispielsweise wie das Insulin auf der molekularen Ebene die Zuckermobilisierung regelt. Er hat freilich in Praktika kennengelernt, wie solche Erkenntnisse gewonnen werden. Er weiß aus Erfahrung, wie sich das empirische Material »anfühlt«, und er kann zusätzlich auf wissenschaftsmethodische Darstellungen rekurrieren, die über Einzelheiten solcher Erkenntnisgewinnung Aufschluss geben.

Er kennt somit das Grundsätzliche der naturwissenschaftlichen Empirie und der wissenschaftlichen Urteilsbildung. Dadurch kann er zunächst ein berechtigtes Vertrauen hegen in die Darstellungen anderer, die er gedanklich übernimmt, aber freilich kein blindes und gläubiges, sondern ein begründetes Vorschuss-Vertrauen. Denn wenn in der persönlichen Praxis oder durch Studien geprüft wird, ob der logische Aufbau dieser Darstellung konsistent ist und ihr möglicher Zusammenhang mit den zugänglichen Phänomenen rational einleuchtet, dann entspricht das einer indirekten empirischen Nachprüfung der Wirklichkeitsgemäßheit jener Darstellung.

Deshalb ist es berechtigt, den geisteswissenschaftlichen Inhalten zunächst ebenfalls in wissenschaftlicher Gesinnung offen zu begegnen, das Dargestellte rational zu durchdenken, mit der eigenen Erfahrungswelt gedanklich in Beziehung zu bringen und dann an der Erfahrung selbst indirekt zu prüfen. Insofern ist das Verhältnis des praktizierenden Arztes oder Forschers zur naturwissenschaftlichen Anthropologie und zur geisteswissenschaftlichen Anthroposophie grundsätzlich dasselbe.

Nicht nur die Naturwissenschaften sind rational

Man muss dabei auch berücksichtigen, dass wissenschaft­liche Rationalität nicht auf die Naturwissenschaften beschränkt ist, wie manche vorauszusetzen scheinen – sonst dürften reine Mathematik oder die Wissenschaft der Logik, die auf rein inneren Erlebnissen beruhen, nicht als Wissenschaften bezeichnet werden.

Die Idee, das Gesetz, der logische oder rationale Inhalt ist deshalb auch das Element, das die auf Naturwissenschaft und Psychologie aufbauende Anthropologie und die auf Geisteswissenschaft basierende Anthroposophie wie »in einem Punkte« (Steiner) zusammenführt. Und das ist speziell für die Frage der Überprüfbarkeit geisteswissenschaftlicher Aussagen in der Medizin von Bedeutung. Denn die Gesetze und Kräfte der physischen, lebendigen, seelischen und geistigen Organisation des Menschen sind nicht abstrakt übereinander geschichtete Ebenen, sondern wirken ineinander. Der physische Körper beispielsweise ist nichts Maschinenhaftes, dem die Lebensorganisation äußerlich wäre, sondern er ist lebendig, das heißt, er wird gemäß den anthroposophischen Grundkonzepten in seinen Strukturen und Funktionen innerlich vollständig durchwirkt und bestimmt von den ihm zwar übergeordneten, aber in ihm wirkenden Gesetzen und Kräften des Lebens, von der ätherischen Organisation. Diese prägt sich dem Physischen ein, so dass im Physischen empirisch ein gesetzmäßiger Abdruck des Ätherischen zu finden sein muss.

Die Anthropologie kann im Bewirkten das Gesetzmäßige dieses Wirkens aufsuchen, die Anthroposophie bezieht sich empirisch auf dieses Wirken selbst. Und so ist es dem Prinzip nach mit allen wirkenden Gesetzen des Physischen, Ätherischen (Organisation der Lebenskräfte), Astralischen (Organisation seelischer Kräfte) und der Ich-Organisation (geistiger Wesenskern des Menschen), insofern sie in den physischen oder psychischen Phänomenen zur Erscheinung kommen. Was die Anthroposophie also für das Verständnis von Gesundheit und Krankheit sowie für die therapeutische Praxis hinzufügen möchte, ist ein empirisch gewonnenes, rationales, in sich zusammenhängendes Wissen über die Wirkkräfte in der Natur und über den inneren »Kräfte-Menschen«. Sie spricht über das innerlich Wirkende dessen, was die Anthropologie durch sinnliche oder psychologische Empirie ebenfalls als Kraftwirkungen postulieren kann.

In beiden Fällen geht es um den Menschen als eine in sich gegliederte physisch-lebendig-seelisch-geistige Ganzheit. Beide Wissenschaftsrichtungen, die anthroposophische und die anthropologische, kommen empirisch auf ihren eigenen Gebieten zu einem rationalen Bild des Menschen.

Nicht die Phänomene, die Interpretationen widersprechen einander

Eine solche Übereinstimmung ist allerdings nur dann zu erwarten, wenn die entsprechenden geisteswissenschaftlichen, psychologischen und naturwissenschaftlichen Bilder nicht aus Modellvorstellungen bestehen, sondern lediglich die Gesetzmäßigkeiten enthalten, die an den entsprechenden empirischen Phänomenen tatsächlich gefunden werden können.

»Deshalb ist die hier gemeinte Geisteswissenschaft bemüht, innerhalb der anorganischen und organischen Naturwissenschaft den reinen Phänomenalismus auszubilden und ohne Spekulation, ohne zugrunde gelegte atomistische oder andere Hypothesen rein die Vorgänge selbst darzustellen, wie sie sich darbieten«, schreibt Steiner. Es darf in der Tat nicht übersehen werden, dass die Naturwissenschaft durch ihre Modellvorstellungen über die eigentlichen Phänomene und deren Gesetzmäßigkeit hinausgeht und Annahmen macht, die die Phänomene erklären sollen. Diese Erklärungen sind dann meist reduktionistisch gehalten. In diesem Sinn ist es, so Steiner weiter, »durchaus Weltanschauung, die sich in den Wissenschaften ausspricht, wenn das auch öfter geleugnet wird«. Die manchmal behauptete Unvereinbarkeit anthroposophischer Konzepte mit der Naturwissenschaft beruht allenfalls auf ihrer Inkompatibilität mit gewissen naturwissenschaftlichen Modellvorstellungen, wogegen sie mit den naturwissenschaftlichen Fakten und deren Gesetzen innerlich sehr gut übereinstimmen können, ein Punkt, auf den Steiner immer wieder hinweist.

An dieser inneren Übereinstimmung klärt sich auch die Frage der Wissenschaftsfähigkeit der anthroposophischen Medizin im Rahmen der modernen medizinischen Forschung. Die grundsätzliche Möglichkeit einer solchen Übereinstimmung wird nur derjenige a priori ablehnen können, der das Wirkliche und Rationale in der Medizin nur auf das Physische am Menschen beschränken will und eine empirische Geisteswissenschaft nicht anerkennen kann.

Literatur: Rudolf Steiner: Die Geheimwissenschaft im Umriss, Dornach 1977; Rudolf Steiner: Fachwissenschaften und Anthroposophie, Dornach 2005; Rudolf Steiner: Von Seelenrätseln, Dornach 1976

Beim vorliegenden Text handelt es sich um einen von der Redaktion gekürzten und bearbeiteten Auszug aus dem Buch Peter Heussers: »Anthroposophische Medizin und Wissenschaft. Beiträge zur einer integrativen medizinischen Anthropologie«, Stuttgart 2011. Mit freundlicher Genehmigung des Autors.