Unbegleitete Flüchtlinge in der Schule. Die Freie Waldorfschule Kassel zieht Bilanz

nna/ung

»Uns ging es darum, ein Konzept aus der Waldorfpädagogik heraus zu entwickeln, das über die allgemein dargestellten Integrationsziele Sprachkompetenz, Schulabschlüsse und Berufsqualifikation hinausgeht«, erläutert Johannes Hüttich, Koordinator und Pionier des internationalen Teams der Kasseler Waldorfschule. Integration greife zu kurz, wenn sie die Tatsache unberücksichtigt lasse, dass jeder Mensch seine biografischen Ziele und Möglichkeiten in sich trage, so Hüttich weiter. Es gehöre zum Menschenverständnis der Waldorfpädagogik, diese Einzigartigkeit zu sehen, die jede menschliche Gemeinschaft bereichere und erneuere. Für das pädagogische Konzept der internationalen Klassen hieß das, den Schülern ihren Selbstbezug wiederzugeben und ihnen Vertrauen zu ihren eigenen Zielen und Möglichkeiten zu vermitteln.

Seit der Einrichtung der ersten Willkommensklasse haben die Freie Waldorfschule Kassel und das ihr angeschlossene Berufsbildungswerk insgesamt 108 junge Flüchtlinge aufgenommen – entweder in eine zweijährige Intensivklasse mit Ü-16-Schülern auf dem Niveau der Klassenstufe 9/10 oder über die direkte Integration von Quereinsteigern von Ü14-Schülern in die Klassen 8 bis 11 oder in die berufliche Ausbildung in den Gewerken Metall, Holz oder Elektro. Die Erfolge können sich sehen lassen: Insgesamt konnten 46 mittlere Abschlüsse vergeben werden, 18 Schüler befinden sich derzeit im zweiten oder dritten Lehrjahr der beruflichen Ausbildung, das heißt, fast alle Schüler haben den Anschluss an das deutsche Schul- und Ausbildungswesen geschafft. Zur Zeit besuchen noch 19 internationale Schüler die oberen Klassen oder die internationale Klasse.

Der große Teil der seit 2015/16 beschulten Jugendlichen stammt aus Afghanistan, Eritrea, Somalia und Syrien, weitere kommen aus Äthiopien, Iran oder dem Irak. Überwiegend waren sie ohne ihre Familie nach Europa geflüchtet. Das Niveau der Schüler war sehr unterschiedlich – es reichte vom Analphabetentum bis hin zu Schülern, die bis zur 11. Klasse in Syrien die Schule besucht hatten. Diese Diversität wurde so zur ersten Herausforderung für das Team der internationalen Klasse in Kassel. Verschiedene Sprachen (Farsi, Dari, Paschtu, Somalisch, Arabisch, Tigrinja) und verschiedene Religionen (Muslime, Sunniten und Schiiten, orthodoxe Christen, Jesiden) kamen hinzu, auch verschiedene Volksgruppen aus den einzelnen Ländern wie Hazara oder Kurden waren in die Klassengemeinschaft zu integrieren.

Zu bewältigen waren auch die starren Schulformen, die die Schüler aus dem Heimatland gewohnt waren: »Was heißt: auswendig lernen, keine Kenntnis von Wissens-
transfer zu haben oder von dem bei uns in der Mittelstufe angelegten Vermögen, eigenständig Inhalte in Form und Schrift zu bringen.« Hier mussten die Lehrer hinsichtlich der Fächer und auch der geeigneten Stoffauswahl flexibel reagieren.

Intensivklassen sind besser

Die Lehrkräfte an der Freien Waldorfschule Kassel haben außerdem Erfahrungen gemacht mit den zwei Formen der Beschulung der Flüchtlinge, die sonst in der Regel auf verschiedene Schularten verteilt waren: der Intensivklasse nur mit Flüchtlingen auf der einen und dem Quereinstieg direkt in Regelklassen auf der anderen Seite. Der Bericht spricht sich eindeutig für die Einrichtung der Intensivklassen aus: Die zweijährige Intensivklasse hat sich für die Ü-16-Schüler als sinnvollste Art der Beschulung erwiesen. Sie sei der »Schutzraum Schule« geworden für die Schüler mit entsprechenden Entwicklungsmöglichkeiten in allen Fachgebieten. Dieses Angebot reichte von Formenzeichnen über Mathematik, Sprachunterricht, Religion, Eurythmie, Sport, phämomenologischen Unterricht in Physik, Chemie und Biologie, Werken, Malen, Zeichnen bis hin zur Astronomie. Durch das breite Fächerangebot der Waldorfschule mussten sich die Flüchtlinge nicht nur in überwiegend kognitiven Fächern wie im staatlichen Schulwesen zurecht finden. Hinzu kamen drei Theaterprojekte, in denen auch Erfahrungen mit der Flucht künstlerisch aufgearbeitet werden konnten. Die internationale Klasse wurde kontinuierlich von zwei Lehrern für Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache beschult und von einer Sozialarbeiterin betreut.

Der Quereinstieg direkt in die Regelklassen überforderte demgegenüber einen Teil der Schüler: Sie verließen die Schule, weil sie der Übergang von ihren gewohnten Lernformen mit einfachem Repetieren der Inhalte zu den Lernformen der Waldorfschule irritiert habe, heißt es dazu im Bericht. Es habe die intensive Begleitung gefehlt, um so Vertrauen in die eigenen Lernschritte zu entwickeln.

Als förderlich erwies sich neben den waldorfspezifischen Fächern und Herangehensweisen der Waldorfpädagogik auch die Tatsache, dass den geflüchteten Jugendlichen durch das Berufsbildende Gemeinschaftswerk direkt an der Schule ein nahtloser Übergang in die Berufsausbildung ermöglicht worden ist. So hätten die Schüler eine »Aufnahmekultur« kennengelernt, in der sie für ihre schulische und berufliche Entwicklung innerhalb von maximal fünf Jahren Vertrauen und Sicherheit gewinnen konnten.

Schlaflosigkeit und Druck

Ausführlich geht der Bericht auch auf die seelische Verfassung der Schüler ein, die das Lernen beeinträchtigt hat. Fehlende Lebenskräfte für das Erinnerungsvermögen seien schnell zum Vorschein gekommen. »Am Vortage Gelerntes ist anderntags wie ausgelöscht«, heißt es in dem Bericht. Abhilfe habe erst durch einzelne, bewegungsorientierte Fördermaßnahmen geschaffen werden können. Stets präsent sei »das Fremdsein, vordringlich die Angst« gewesen. »Werde ich hier ankommen? Darf ich bleiben? Genüge ich den Anforderungen? Bin ich dem Leistungsdruck gewachsen?«, formuliert der Bericht die Fragen, die die Schüler ständig beschäftigt haben. Formelle Ablehnungsbescheide im Asylverfahren hätten zudem große Unruhe in die Gruppe gebracht, ebenso wie die stete Sorge um Familienangehörige, die trotz Kriegswirren zu Hause geblieben seien oder irgendwo auf der Fluchtroute feststeckten. Schlaflosigkeit war weit verbreitet. Schüler seien auch unter Druck gesetzt worden, Geld zu verdienen, eigentlich Haupternährer der Familie zu Hause zu sein, während die Schule ihnen parallel schulisches Verhalten habe antrainieren wollen.

Hoher Aufwand in Mitarbeit und Finanzen

Dass die Mehrzahl der Schüler unbegleitete junge Menschen waren, stellte die Kasseler Waldorfschule noch vor eine weitere Herausforderung, setzt sie bei ihren Regelschülern doch auf eine intensive Mitarbeit der Elternhäuser. Das Projekt habe jedoch gezeigt, dass durch die intensive Begleitung mittels eines »Kernteams, seien es Lehrer, Sozialpädagogen, FSJler oder Bundesfreiwilligendienstler der fehlende Elternteil ersetzt werden kann«. Eine gesunde Schulstruktur könne das Fehlen des Elternhauses auffangen, erforderlich sei jedoch ein erhöhter Aufwand an Mitarbeit auf der Verwaltungs- und Steuerungsebene und ein beständiges Fundraising, um die finanziell aufwändigen Zusatzmaßnahmen abdecken zu können. Das Kasseler Modell der Beschulung von Flüchtlingen war nur durch ein ganzes Netzwerk von Unterstützern und Förderern möglich. Dazu gehörten das hessische Kultusministerium, die Software AG Stiftung, die dm-Drogeriemarkt-Kette, die Hübner-Kennedy-Stiftung, die Mahle Stiftung, die Bürgerstiftung Kassel sowie
zahlreiche Privatspender.

Die Kasseler Waldorfschule mit ihrem internationalen Team sieht die internationale Beschulung als »eine Herausforderung der Zeit, die zu einer weltoffenen Haltung erzieht, die das Eigene und das Fremde umschließt«. Sie führe einerseits alle Beteiligten weg vom vertrauten Ambiente und andererseits zu einem schärferen Blick auf die eigene Nation. Als nächstes Ziel will sie den Schülern muttersprachlichen Unterricht ermöglichen, wie es in Skandinavien bereits verpflichtend ist. Außerdem sollen transkulturelle Unterrichtsinhalte verstärkt mithilfe von Fachkollegen entwickelt werden und die sozialpädagogische Unterstützung für die Schüler auch nach dem Verlassen der Schule und des Berufsbildungswerks verstärkt werden. Eine neu eingerichtete Schneiderei soll auch geflüchteten Mädchen einen längeren Aufenthalt ermöglichen.

Mit freundlicher Genehmigung, gekürzter Beitrag aus: www.nna-news.org/de