Es werden weder diejenigen bedient, die verärgert abwinken – »Nicht schon wieder!« – noch diejenigen, die innerlich erhitzt ausrufen – »Wusste ich es doch!«, sondern Leser und kritische Zeitgenossen, die eine gedanklich stringente Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex suchen.
Die Einflugschneise ist nicht, wie in den letzten Monaten oft geschehen, eine medizinisch-ethische, sondern eine wissenschafts- und gesellschaftspolitische, die nach der herrschenden Wissensordnung und -praxis sowie nach den Prinzipien einer freiheitlichen und ethischen Gesellschaftsgestaltung fragt. Welche Rolle fällt auch in einer Krise der Wissenschaft zu? Wie muss sich ihr Verhältnis zur Politik gestalten? Was üblicherweise an Universitäten zu theoretischen und trockenen Einführungsveranstaltungen in die Soziologie dazugehört, wird in der Corona-Pandemie praxisrelevant und zur Gretchenfrage des modernen und technokratischen Staates, der sich für die Freiheit, für die Demokratie und für das gute Leben seiner Bürger verantwortlich fühlt.
Der vom Umfang her knapp gehaltene Text, liest sich wie ein wissenschaftspolitischer Krimi. Er zeichnet die Entwicklungsdramatik der Corona-Bekämpfung nach, befreit medial eingeübte Begriffe von ihrer interessengeleiteten Instrumentalisierung und zeigt schließlich Irrwege der politischen Strategie auf, ohne jedoch selbst den Rahmen rationalen Denkens zu verlassen.
Lesenswert sind die persönlichen Erfahrungen von Lütge und Esfeld, die beide auf höchstem Niveau Einblicke in den Wissenschaftsbetrieb selbst und in die mittlerweile für die Gesellschaft genauso wichtige wissenschaftliche Politikberatung haben. Der eine wurde in den vermeintlich unabhängigen Expertenrat der bayerischen Regierung aufgrund seiner intellektuellen Qualität ein- und abberufen. Der andere ist Mitglied der Leopoldina, der Nationalen Akademie der Wissenschaften und ein europaweit anerkannter Philosoph.
Sie widerlegen einige mediale Behauptungen: Unter anderem die, es gäbe den einen Konsens der Wissenschaft, der Lockdown sei alternativlos und verhältnismäßig gewesen, die Freiheitsrechte nicht eingeschränkt oder die Maßnahmen gar im Sinne der offenen Gesellschaft gewesen. Und sie machen deutlich, dass gerade die divergierende Pluralität wissenschaftlicher Positionen und Methoden das gesellschaftliche Vertrauen in die Wissenschaft steigert.
Der Leser findet in dem Buch zahlreiche gedankliche Anregungen, die bis heute in der kritischen Diskussion nicht aufgegriffen wurden, beispielsweise zur geschichtlichen Rolle liberaler Strömungen, zur aktuellen Allianz von linkem und rechtem Hegelianismus, der den Staat als Vollender des Menschen sieht, und schließlich zur Dynamik der Corona-Pandemie als Milgram-Experiment auf gesellschaftlicher Ebene.
Die entwickelten Argumente knüpfen an der philosophischen Tradition der Aufklärung an, die die unhintergehbare Würde des Individuums und seine Bestimmung zur menschlichen Freiheit als eines unserer höchsten Kulturgüter anerkennt. Sie machen Mut, das eigene Denken vertrauensvoll weiterzuentwickeln.
Christoph Lütge, Michael Esfeld: Und die Freiheit? Wie die Corona-Politik und der Missbrauch der Wissenschaft unsere offene Gesellschaft bedrohen. Softcover, 128 S., EUR 10,–, Riva Verlag, München 2021