Ausgangspunkt meiner Forschungsarbeit war zum einen die Annahme, dass Rudolf Steiners Lauteurythmie-Formen »wahre Formen« sind. Darunter verstehe ich, dass sie aus sich heraus wirksam sind, ohne dass ich als Lehrer einen Inhalt hinzufüge – ja, dass sie demnach auch ohne Sprache wirksam sein müssten. Steiner wollte, dass in der Oberstufe seine Standardformen unterrichtet werden, das sind Choreografien zu Gedichten oder Musikstücken. Diese sind in neun Bänden erschienen und beinhalten (abgesehen von pädagogischen Grundformen) rund 1.500 Skizzen. In den Ur-Lehrplänen finden sich diverse Hinweise, dass man diese Formen den Schülern der Oberstufe beibringen solle. Das Problem ist aber, dass sie bewegungstechnisch und zum großen Teil auch inhaltlich schwer vermittelbar sind. Ich habe im Laufe meiner Unterrichtstätigkeit (fast) keine Lauteurythmie-Formen gefunden, die sich wirklich eignen, um sie mit Schülern der Oberstufe zu erarbeiten. Ich habe es in meinem Unterricht also mit Lehrplanangaben zu tun, die weit über das Verständnis und die eurythmischen Fähigkeiten von heutigen Oberstufenschülern hinausgehen.
Ich wollte einer neunten Klasse – nach einer Analyse ihrer sozialen Struktur, ihres Verhaltens, ihrer altersbedingten Suche nach einer sich neu bildenden Identität – eine altersgemäße Hilfe mit den Mitteln der Eurythmie geben. Mein Ziel war also, pädagogisch wirksame Gruppenformen gezielt einzusetzen, um die gesamte Klasse als Gemeinschaft zu stärken und zu harmonisieren und um zusätzlich die Kräfte der einzelnen Schüler zu entwickeln.
Diese Herausforderungen führten zu drei großen Forschungsfragen. Die erste Frage lautete: Wirken die von Steiner für den Unterricht in einer 9. Klasse empfohlenen eurythmischen Formen tatsächlich? Die zweite Frage: Wie können sich die Schüler in der 9. Klasse einen eigenen Zugang zu diesen Formen erarbeiten? Und die dritte Frage: Welche Wirksamkeiten kann ich bei der selbstständigen Erarbeitung von Formen Steiners durch die Schüler der 9. Klasse wahrnehmen und was nehmen die Schüler wahr?
Wir-Gefühl und »Ecce Homo«
Ich entschied mich für zwei Formen Steiners als Arbeitsgrundlage. Die erste ist eine vermeintlich einfache pädagogische Form aus dem sogenannten »Apollinischen Kurs«: »Wir suchen uns, wir leben uns, ganz nah« (Steiner).
Mit dieser Form sollte – so meine Vermutung, was Steiner mit ihr im Sinn gehabt hatte – an einer Stärkung des »Wir-Gefühls« gearbeitet werden und im besten Fall eine Harmonisierung der Gruppe entstehen. Die zweite Form ist eine sogenannte Standardform zu dem Gedicht: »Ecce Homo« (Siehe, der Mensch). Meine Idee war, dass sie von den Schülern wie eine »archäologische Ausgrabung« betrachtet werden sollte. Ich überreichte ihnen also die von Steiner gezeichnete Form, hatte zuvor aber alle zusätzlichen Informationen gelöscht. Dies bedeutete, dass es außer den Linien auf dem Papier keine anderen Informationen für die Schüler gab. Sie sollten rein aus der Zeichnung heraus einen möglichen Sinn entschlüsseln. Sie wussten auch nicht zu welchem Gedicht die Form gezeichnet wurde. Die Schüler mussten also bei der Arbeit kooperieren und die Formen stumm ausführen. So wurden die Schüler in den Forschungsprozess als selbstständig handelnde Forscher mit eingebunden.
Es begann ein sehr interessanter Vorgang, den ich aus verschiedensten Perspektiven beobachtete, mitgestaltete und auswertete. Die Schüler stiegen mit großem Eifer und sehr interessiert in die Arbeit ein. Sie
• bestimmten eigenständig das Lerntempo,
• korrigierten sich stets gegenseitig,
• entwickelten Fragestellungen und wurden zu Problemlösern,
• entwickelten die pädagogischen Formen eigenständig weiter und brachten diese ihren Mitschülern bei,
• schrieben Gedichte zu den stummen Formen,
• fanden eigene eurythmische Laute zu den Formen,
• beschrieben mit eigenen Worten die Empfindungen, die eine solche Gruppenform auslösen kann.
Endeckendes Lernen
Die große Gruppe begleitete die Arbeit mit regelmäßigen Feedbackrunden. Auch ein von mir erstellter Fragebogen half mir dabei, die Erfahrungen und Wahrnehmungen der Schüler zu erkunden. Aus der völligen Reduktion der Aufgabenstellungen entwickelte sich eine unvermutete Kreativität. Die Schüler kamen zu vielen interessanten Ergebnissen, manche davon hätte ich im Voraus nicht erwartet. So arbeiteten sie tatsächlich ein Schuljahr lang an einer pädagogischen Form und schufen stimmige Weiterentwicklungen und Metamorphosen. Alle mir als Eurythmist wichtigen Formbeziehungen in der Standardform Steiners, wie Dynamik, Rhythmik, die Umsicht und die Beachtung des Spiegelbildes, wurden von den Schülern selbst gefunden und wenn nötig untereinander genauestens korrigiert. Und noch etwas entstand im Laufe des Schuljahres, etwas, das ich zurzeit als meine größte Entdeckung bezeichnen kann: Es entstand Stille. Wer Schüler in dieser Altersstufe kennt, der wird vielleicht ermessen können, was Stille für sie bedeuten kann.
Meine Unterrichtsstrategie war die Unterstützung eines entdeckenden oder forschenden Lernens. Natürlich gab ich als Lehrer den Rahmen vor, impulsierte und provozierte manchmal auch neue Entwicklungen durch meine Fragestellungen. Auch in den größten Phasen des selbstständigen Handelns der Schüler versuchte ich, klare und nachvollziehbare Arbeitsaufträge zu geben. Ich pflegte einen geführten, umsorgenden und beobachtenden Unterrichtsstil, der viel Selbstständigkeit bei den Schülern voraussetzte, aber stets »Leitplanken« hatte. Ich übte ein Schuljahr lang an dieser Veränderung meiner Handlungsweisen als Lehrer. Das war schwierig und ich musste mir häufig selber den Mund verbieten, da ich allzu gerne sage, wo es lang geht. Diese Art zu unterrichten, benötigte zudem sehr viel Zeit und bedeutete auch, dass ich in diesem Schuljahr fast nichts von den gängigen Inhalten des Lehrplans, meinem »normalen« Unterrichtsrepertoire, erarbeitete.
Den Freiraum, sich über den gängigen Lehrplan hinwegzusetzen, kann sich sicherlich nicht jedes Fach leisten, aber vielleicht wäre es öfter nötig, geht es doch in erster Linie um den Schüler und nicht um das Abarbeiten von curricularen Zielen. Denn die Ergebnisse dieses Projekts sprechen für sich: Die eingangs genannten Vermutungen, die zu dieser Arbeit führten und die ich mit meinem radikalen Unterrichtskonzept bearbeitete, sind alle mit ja zu beantworten. Schüler einer neunten Klasse können selbstständig einen Zugang zu den Standardformen Rudolf Steiners finden. Seine pädagogischen Grundformen sind auch in dieser Altersstufe hoch wirksam.
Zum Autor: Jürgen Frank ist Eurythmielehrer an der Rudolf-Steiner-Schule Hamburg-Bergstedt, Dozent an der Hoogeschool Leiden, NL, und Mitglied von IPEU (Initiative Pädagogische Eurythmie)
Hinweis: Das Forschungsprojekt »Eurythmieunterricht Heute« stand unter der Leitung von Stefan Hasler (Fachgebiet Eurythmie), Axel Föller Mancini und Gisela Beck (Fachbereich Bildungswissenschaft) sowie Charlotte Heinritz.
Literatur: S. Hasler, Ch. Heinritz (Hg.): Den eigenen Eurythmieunterricht erforschen, Edition Waldorf, Pädagogische Forschungsstelle des Bundes der Freien Waldorfschulen, Februar 2014, www.waldorfbuch.de.
Über diese Forschungen wird es zwei weitere Bücher für die pädagogisch-eurythmische Praxis geben. Das zweite Buch erscheint im kommenden Frühjahr.
Das nächste öffentliche Forschungssymposium findet am 18.-19.10.2015 an der Alanus Hochschule in Alfter statt.