Ungewöhnliches Menschenverständnis

Mathias Maurer

Dabei dreht es sich im Kern darum, dass diese Pädagogik auf einem Verständnis des Menschen beruht, das ihn als komplexes, geistiges, seelisches und physisches Wesen begreift, einem Verständnis des Menschen, das nicht nur eine Jahrtausende alte Selbstverständlichkeit, sondern auch weltweit in den unterschiedlichsten Kulturen anzutreffen ist.

Nur ein Beispiel: Rhythmus ist ein essentielles, alles Leben tragendes Geschehen. Rhythmische – also regelmäßig wiederkehrende – Prozesse finden nicht nur im Körper des Menschen statt, sondern auch in dessen Seele, ja sogar in seinem Geist – man denke nur an den regelmäßigen Wechsel von Schlafen und Wachen, der nicht nur für die Integrität der Person, sondern auch für die Gesundheit unverzichtbar ist. Seele und Geist auf der einen Seite und Vorgänge im Körper auf der anderen beeinflussen sich gegenseitig. Reduktionismus nach jeder Seite verbietet sich von selbst. Wie verändert sich zum Beispiel der Sauerstoffgehalt des Blutes, wenn wir seelisch in Aufruhr geraten oder uns eine Erkenntnis aufgeht? Und umgekehrt, im Krankheitsfall: In welche Seelen- und Geistverfassung geraten wir, wenn wir über unseren Körper nicht mehr wie gewohnt »verfügen« können?

Waldorfpädagogik betrachtet den Menschen als Ganzes, als integrale Einheit. Ihn in Einzelteile zu zerlegen, mag einen partiellen Erkenntnisgewinn bringen; aber die Teile müssen wieder ins Ganze eingefügt werden.

In der Kultivierung des Denkens, Fühlens und Wollens, in der Harmonisierung von Leib, Seele und Geist liegt der heilende Impuls dieser Pädagogik.

Ein treffendes Bild für ihr Menschenverständnis begegnet jedem Kind in der ersten Klasse, wenn es mit dem Rechnen anfängt. Nicht mit den Teilen, sondern mit der 1, dem großen Ganzen, fängt es an. Weil wir als Menschen, weil wir mit der Welt eine Einheit bilden. Ohne die Einheit gäbe es nichts zu teilen. Für diesen ganzheitlichen Ansatz, der jedem Menschenverstand zugänglich und den wir für menschengemäß halten, mag die Waldorfpädagogik belächelt werden.