Unser kleiner Astrophysiker

Liebe Leserin, lieber Leser!

Wir sitzen abends im Garten und Sarah (5) ruft: »Schaut, die Sonne geht unter!« Ein glutroter Ball versinkt langsam am Horizont, ein gewaltiger Anblick. Sven (9) beugt sich zu mir herüber und flüstert mir konspirativ ins Ohr: »Weißt Du, die geht gar nicht unter. Die Sonne dreht sich nicht um die Erde. Das macht nur der Mond. Die Erde dreht sich in Wirklichkeit um die Sonne.« Ich frage ihn: »Woher weißt Du denn das? Von hier aus sieht doch beides gleich aus?«

Svens schnelle Antwort: »Ich habe das vor kurzem in der Zeitung gesehen. Da war ein Bild aus dem Weltraum, wo man die Erde ganz klitzeklein sieht. Ich glaube, das haben die Raumfahrer entdeckt.«

Ich erinnere mich: Die amerikanische Raumsonde Cassini, die den Saturn seit fast zehn Jahren umkreist, hatte vor kurzem ein Bild aus 1,5 Milliarden Kilometern Entfernung auf die Erde gefunkt. Dann antworte ich ihm: »Nein, das wurde schon viel früher entdeckt und ohne diese Entdeckungen könnten die Menschen heute gar nicht in den Weltraum fliegen.« »Konnten die denn schon Raketen bauen?«, fragt Sven ungläubig. »Nein, natürlich nicht, aber sie haben mit dem Fernrohr in den Himmel geschaut und herausgefunden, dass die Planeten sich nicht im Kreis, sondern in Ellipsen bewegen.« – »Ellipsen? Das verstehe ich nicht«, Sven zieht seine Stirn in Falten. »Einer der Entdecker war Galileo. Er hat an einem pendelnden Kronleuchter im Dom von Pisa die ovalen Kurven studiert.« – »Was hat das denn mit dem Mond zu tun?«, Sven wird immer unzufriedener. »Na ja, anhand der Pendelbewegungen konnte er die Flugbahnen der Planeten errechnen und hat dabei festgestellt, dass sie so verlaufen, dass die Erde um die Sonne laufen muss.« »Ist das kompliziert«, Sven hat jegliches Interesse am Thema verloren und zieht zu seiner Schwester in den Garten ab, wo sie mit dem Fussball praktische Flugbahnübungen machen.

Was damals das Weltbild erschütterte und Galileo fast auf den Scheiterhaufen der Inquisition brachte, ist heute – unverstandenes – Weltwissen. Wer hat schon einmal die Erfahrung gemacht und die Berechnung angestellt, dass er behaupten könne, das geozentrische Weltbild sei falsch? Verhält es sich nicht mit den meisten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, die wir »ungeprüft« übernehmen, genauso?

In der Waldorfschule beginnt alles naturwissenschaftliche Forschen mit Experimenten. Sie liefern er­-­fahrungsgesättigte Sinneseindrücke: Es stinkt und knallt – und pendelt – ohne vorschnelles Erklären.

Gemeinsam läuft der Lehrer mit den Schülern die historische Route der Entdeckungen Schritt für Schritt bis in die Gegenwart ab. Sie bildet den Boden für alle weiteren Kausalitäts- und Abstraktionsleistungen – so dass Sven dann in der siebten Klasse die kopernikanische Wende vom geozentrisch zum helio­zentrisch gedachten Weltbild wirklich verstehen wird.

Aus der Redaktion grüßt

Mathias Maurer