Unter der Lupe

Christian Wittrahm

Das Landwirtschaftspraktikum stand an. Uns war freigestellt, ob wir selbst einen Hof suchen oder der Empfehlung unserer Gartenbaulehrerin folgen wollten. Ich tat Letzteres und vertraute auf ihre Fachkenntnisse und ihr Einschätzungsvermögen. Ich erhielt eine Adresse, an die ich mich wenden sollte: einen Demeterhof im idyllischen Südschwarzwald. Motiviert packte ich meine Koffer. Der Schwarzwald reizte mich schon lange. Als ich dort Anfang April eintraf, lag noch Schnee auf den Berggipfeln vor dem blauen Himmel, und unterhalb des tief schwarzen Nadelwaldgürtels blühten die schlohweißen Kirschen. Hier wollte ich vier Wochen lang einen guten Job machen.

Ich kam bei einer Bauernfamilie unter, wohnte und aß mit ihr. Ich hatte kein eigenes Zimmer, sondern war im Arbeitszimmer des Bauern untergebracht.

Die Arbeit: 6.30 Uhr in den Kuhstall, bis 9.00 Uhr ausmisten und füttern. Tagsüber dann Arbeiten auf dem Feld oder Holzarbeiten im Wald, unterbrochen nur vom Mittagessen und der höchstens 45 Minuten langen Mittagspause. Abends um 17:30 Uhr dann wieder in den Stall, bis es gegen 20:00 Uhr dann Abendessen gab. Nach ein paar Tagen war ich ganz schön geschafft und freute mich aufs Wochenende. Entsprechend groß war dann die Enttäuschung: »Samstag ist ein normaler Arbeitstag!« Okay, dachte ich, dann eben Sonntag. Doch auch an diesem Tag musste ich in aller Frühe in den Stall und abends ebenfalls. Immerhin: ich musste sonntags nur fünf bis sechs Stunden arbeiten und hatte eine Ruhepause von 9:00 bis 17:30 Uhr, in der ich weite Spaziergänge auf die umliegenden Berge machte.

Meine Gartenbaulehrerin besuchte mich zu Beginn der zweiten Woche. Ich gab zu Protokoll, dass alles zu meiner Zufriedenheit abläuft. Denn vom Jugendarbeitsschutzgesetz bzw. dem Leitfaden zum Schülerbetriebspraktikum, der unter anderem vorschreibt, dass höchstens 35 wöchentliche Arbeitsstunden zulässig sind, hatte ich bis dahin noch nichts gehört.

Die zweite Woche ging genau wie die erste weiter, Arbeit quasi von früh bis spät. Von nun an musste ich den gesamten Stall meist alleine ausmisten. Mit Mistgabel und Schubkarre. Doch noch hatte ich genug Kraftreserven, um Steine vom Acker zu sammeln, Brennholz einzufahren und zu stapeln oder abwechselnd Mist zu schaufeln und vor wildem Rindvieh zu flüchten.

Mit der Zeit spürte ich, dass ich ein solches Power-Programm nicht auf Dauer durchhalten würde. Ich ging jedoch davon aus, dass es meinen Klassenkameraden auf den anderen Höfen ähnlich gehen würde und jeder auf seine Art damit fertig werden musste. Ich hatte keinen Schimmer davon, dass es auf anderen Höfen grundlegend anders zuging. Doch die dritte Woche hatte es in sich. Die Arbeiten waren so schwer, dass selbst der Bauer sich beim Heben riesiger Brennholzteile einen Hexenschuss zuzog. Da er nun außer Gefecht war, musste ich um so mehr mit anpacken. Ich war morgens, wenn ich in die Stiefel stieg, noch geschafft vom Vortag. Aber auf dem Hof schien Schwäche tabu zu sein und deshalb machte ich Tag für Tag weiter, bis ich am dritten Wochenende heftige Schmerzen in der Leistengegend bekam. So konnte ich nicht mehr weitermachen. Also schaltete ich meine Gartenbaulehrerin ein, die mit dem Bauern telefonierte. Doch es änderte sich nichts.

Um Auseinandersetzungen zu vermeiden, arbeitete ich weiter wie bisher. Anfang der vierten Woche wurden die Schmerzen an der Leiste und nun auch im Rücken immer schlimmer. Als ich beim Bauern um eine Pause bat, bot er mir an, das Praktikum abzubrechen und nach Hause zu fahren. Das war für mich jedoch nicht ohne Weiteres möglich, da ich die Bahnfahrkarten für zwei Klassenkameraden hatte, die auf nahe gelegenen Höfen untergekommen waren. So hielt ich eisern durch, aber ich zählte die Tage. Ich fühlte mich gefangen und wehrlos dem Bauern und seinen cholerischen Ausrastern ausgesetzt.

An meinem letzten Tag konnte ich gar nicht schnell genug meine sieben Sachen zusammenraffen und mich abfahrtsbereit machen. Mein Zug fuhr schon gegen 13.00 Uhr, doch eigentlich hätte ich noch bis zum Abend arbeiten sollen. Wie hätte ich aber sonst eine Fahrt von über neun Stunden bis zurück nach Norddeutschland schaffen sollen?

Zum Abschied sagte mir die Großmutter im Haus, dass sie mir wohl einen krankheitsbedingten Pausentag zugestanden hätte und schenkte mir ein Stück selbst gefertigten Käse. Der Bauer sagte mir zum Abschied, dass ich in meinem nächsten Praktikum mehr mit den Händen als mit dem Kopf arbeiten solle. Kein Kommentar von mir. Ich wollte nur noch weg. Am Bahnhof traf ich auf meine Klassenkameraden, die schon seit dem Morgen freigestellt worden waren. Auf der Fahrt tauschten wir uns über unsere Erfahrungen aus. Beide mussten weder samstags noch sonntags arbeiten, hatten eigene Zimmer mit Internetanschluss und Fernseher. Sie hatten sogar Geld für ihre Mitarbeit bekommen. Zuhause angekommen musste ich wegen meiner Rückenschmerzen erst einmal zum Arzt.

In der Schule bat ich um einen Gesprächstermin mit meiner Gartenbaulehrerin, um die Ereignisse noch einmal aus meiner Sicht zu schildern und zu beantragen, dass bei der nächsten Klasse ein größeres Augenmerk auf Arbeitszeiten und Umgang mit den Praktikanten gelegt wird. Allerdings stieß ich auf wenig Verständnis. Ich wollte auf einen Missstand hinweisen, doch scheinbar bestand kein Interesse an Verbesserungen oder Prävention hinsichtlich solcher Verstöße gegen das Jugendarbeitsschutzgesetz.

Im Anschluss an das Landwirtschaftspraktikum hält jeder Schüler auf einem geselligen Abend mit Eltern und Lehrern einen kleinen Vortrag über seine Erlebnisse und Eindrücke auf dem Hof. Dort, so dachte ich, könnte ich vielleicht auf den Handlungsbedarf aufmerksam machen. In der Vorbesprechung wurden wir jedoch von unserer Tutorin darauf hingewiesen, dass Kritik nicht erwünscht sei. Ich war platt. Die Angelegenheit nahm für mich skandalöse Züge an. Ich beschränkte mich also in meinem Vortrag auf grundlegende Fakten wie Lage des Hofes, Tierbestand und anstehende Arbeiten. Da ich weiterhin Schmerzen hatte, schickte mich mein Hausarzt zu einem Orthopäden, der mir einen Lendenwirbel wieder einrenkte.

Ich erstellte einen Auswertungs-Fragebogen für die Praktika und verteilte ihn in der Klasse. Jeder meiner Mitschüler konnte seinen Hof unter Kriterien wie »Arbeitszeiten«, »Schutz vor Gefahren« »Umgang«, »Unterbringung« oder »Pflege bei Krankheit« bewerten, um die Hofwahl für die Folgeklasse zu erleichtern. Einige Tage später rief die Gartenbaulehrerin entrüstet bei meiner Mutter an und beschwerte sich über meine Bemühungen, den Fall auf diese Weise publik zu machen. Ich wandte mich in einem Brief an die Gartenbaulehrerin und versuchte nochmals, die Sachlage aus meiner Sicht zu schildern. Eine Antwort habe ich nie bekommen.

Die Auswertungsbögen der Praktika gab ich an die Praktikumsbetreuerin der folgenden Klasse weiter. Wo sie hängen geblieben sind, habe ich nie erfahren.

Mir ist es wichtig, dem betreffenden Hof keine Vorwürfe zu machen. Der Hof existiert seit Jahrhunderten und in die dortigen Verhältnisse habe ich mich nicht einzumischen. Was ich jedoch fordere, ist, dass die Betreuer der Praktika an Waldorfschulen ein Augenmerk darauf richten, wohin sie ihre Schüler entsenden. Auf vielen Höfen wird traditionell hart gearbeitet und wo die Menschen Traditionen leben, soll sie niemand daran hindern. Aber die Verantwortung für das Wohlergehen der Schüler liegt bei der Schule. Sie schickt sie für vier Wochen in ein komplett anderes Umfeld. Sie muss gewährleisten können, dass dabei gegen keinerlei Gesetze verstoßen wird und niemand zu Schaden kommt.

Ich bin der Ansicht, dass es dringend nötig ist, dass die Schulen schon bei der Auswahl ihrer Praktikumsplätze darauf achten sollten, dass dort das Jugendarbeitsschutzgesetz bekannt ist und eingehalten wird; denn nur so kann der pädagogische Wert und Sinn einer solchen Unternehmung gewahrt bleiben. Vielleicht regt mein Bericht zu einer Diskussion über die Durchführung der Landwirtschaftspraktika an.

Ich habe unter anderem aufgrund dieses Vorfalls die Schule verlassen.