Varieté Voilà. Lebensfreude durch Artistik

Uwe Mörschel

Eine entspannt-gespannte Atmosphäre herrscht im Großen Saal unter den jungen Artisten und der Crew: erste Durchgangsprobe der anstehenden Show. Eine angenehme Mischung aus Konzentration, Aufmerksamkeit und Locker­heit, große Anteilnahme bei den zuschauenden Mitartisten. Applaus für Gelungenes und echter Trost für Misslungenes wird gespendet. Kurze Regieanweisungen folgen – weiter geht’s.

Zwischendurch führe ich Gespräche mit verschiedenen Teilnehmern. Elena Sophia ist über ihre Brüder dazu gekommen. Sie tanzt leidenschaftlich gern und genießt die Auftritte in der Gruppe. Hier treffen sich alle, die gemeinsam und doch individuell auf ein Ziel hinarbeiten wollen. Jeder, der will, darf mitmachen und sich ausprobieren. Mitfreuen und Mitleiden werde zur Selbstverständlichkeit, findet Anabell. Das Lachen über irgendein Missgeschick, es klingt mitfühlend humorvoll. Schon im nächsten Augenblick kann das jedem passieren. Ist etwas Neues gelungen, ist ein weiterer Meilenstein überwunden. Selbstdisziplin und Verantwortung werden geschult. »Springe ich ab, leidet die ganze Gruppe darunter«, sagt Anabell. Sebastian spielt Diabolo: »Das Bühnenerlebnis nach all der Anstrengung gipfelt im Applaus der Zuschauer und das bekommt man nur hier.« – »Das wirkt wie starker Kaffee … und gaanz viel Schokolade«, ergänzt Anabell. Charlotte arbeitet mit dem Tuch und liebt die Atmosphäre. Marius engagiert sich in der Technik: »Es findet sich immer eine Lösung«, sagt er, »man muss improvisieren und spontan reagieren.« Marius reizt es, die künstlerischen Einlagen zu unterstützen und die gesamte Technik als Hilfsmittel perfekt und punktgenau einzubinden. Jemand wirft ein: »Ohne die läuft hier gar nichts!«

Ein offenes, schulübergreifendes Projekt

Hanno Belz, ausgebildeter Veranstaltungstechniker wirkt dafür im Hintergrund. Er leitet die Technik-Crew, mit viel Sachverstand, wie viele hier ungenannte Unterstützer und Artisten. Maurice und Tobias sind Urgesteine, heute als Trainer mit »Schlüsselgewalt« dabei. Sie kennen sich aus mit ihren Pappenheimern und so manchen Tricks. Das soziale Miteinander zu gestalten, liegt ihnen neben der Arbeit als Trainer und Akrobaten am Herzen. So greifen sie steuernd und regelnd immer wieder ein, wenn es notwendig ist.

Anina studiert in Marburg. Durch ihre Freundin Rebecca wurde sie auf das Varieté Voilà aufmerksam. In ihrem alten Verein erlebte sie die Akrobatik als einengend mit vielen Vorgaben. Hier genießt sie den Freiraum für Eigeninitiative. Sie ist eine der wenigen Nicht-Waldörfler und froh, dass Varieté Voilà für alle offen ist. Einige Aktive kommen aus der Frankfurter Waldorfschule, allen voran Engelbert Bäumler als Trainer für Akrobatik. Eine weitere Stütze ist Patrik Fend, der die Internetpräsenz, den Kartenverkauf und vieles andere regelt. Alles in allem eine Projektarbeit der besonderen Art. Auch ohne besondere Fähigkeiten kann sich jeder dort einbringen, mitmachen, lernen oder einfach nur Lebensfreude einatmen. Der richtige Zeitpunkt ist nach der Pubertät, wenn die Phantasiekräfte frei werden. Schul- und klassenübergreifend, gemischt durch alle Altersstufen wird im gegenseitigen Lernen über ein Jahr hinweg gemeinsam auf ein Ziel hingearbeitet: die große Show – fünf Aufführungen am Schuljahresende. Weit über die Kreisgrenzen hinaus sind die Aufführungen bekannt. Einige international bekannte Artisten sind aus all der Arbeit hervorge­gangen. »Das ist toll, aber nicht unser Ziel«, sagt Sandra Morgantti, Handarbeits- und Sportlehrerin an der Schule. Sie ist die Verantwortliche für den Zirkus der Klassen 1 bis 8 und das Varieté der Klassen 9 bis 13.

Verschiedene Firmen buchen immer wieder bestimmte Nummern für Geschäftsveranstaltungen. 2010 erhielt »Varieté Voilà« den Kulturpreis des Wetter­aukreises und 2005 den Jugend-Medizinpreis des Verbandes der Kinder- und Jugendärzte. – Hilfe annehmen und Hilfe geben – das lebt zwischen den Akteuren und bestimmt die Atmosphäre. Immer wieder kommen »alte Hasen« zum Training vorbei, beraten, unterstützen und ermuntern. Das »Duo Elja« – heute zwei international anerkannte Artistinnen – hat Sandra Morgantti ermutigt, das Projekt »Variete Voilà« umzusetzen. Umgekehrt hatte damals Sandra die Zwillinge ermutigt, die Artistenlaufbahn einzuschlagen.

Sandra und ihr Mann Achim waren über viele Jahre beim Circus Roncalli tätig. Mit der Einschulung ihrer Tochter wurden sie sesshaft und die Freie Waldorfschule Wetterau ihre Schule. Beide arbeiten dort auch mit viel Engagement: Sandra als Sport- und Handarbeitslehrerin, Achim als Hausmeister. Während der Ausbildung zur Waldorflehrerin reifte in ihr – einer Sportpädagogin und Artistin – der Wunsch, ein eigenes Varieté aufzubauen. Junge Menschen die Atmosphäre von Circus und Varieté erleben zu lassen und Grenzerfahrungen durch Körpererfahrung zu vermitteln, das war und ist ihr Ansporn und ihre praktische Umsetzung von Rudolf Steiners geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnissen zur Pädagogik. Heute existiert ein eigener Verein mit knapp 300 Mitgliedern. Eltern-Kind-Turnen, Kinderturnen und eine Circus- und Varieté-AG sind feste Bestandteile des Vereins. Die Schule ist die räumliche Stütze und bildet damit den Anlaufpunkt für das Training und die Aufführungen.

Es gibt auch Wünsche für die Zukunft. Liebend gerne würde das Team in die Shows mehr musikalische Elemente einbauen. Die Crew ist offen für Fähigkeiten und Engagement. Eine charismatische Villa als eigenes Domizil für Werkstätten, Schneiderei, Tonstudio … – wer weiß, vielleicht wird auch das noch Wirklichkeit.

www.varietevoila.de

Zum Autor: Uwe Mörschel ist Schülervater an der Freien Waldorfschule Wetterau, Baum- und Gartenpfleger, überzeugter freiwilliger Hausmann seit der Geburt seines ersten Kindes.