Vertrauen – das Wunder des Menschseins

Henning Kullak-Ublick

Wer jemals in die Augen eines wenige Tage alten Menschenkindes geschaut hat, wird nie wieder die unendliche Tiefe und Reinheit dieses Blicks vergessen, in dem der Augenblick zur Ewigkeit zu werden scheint, in dem sich das urälteste Wissen der Welt mit dem Versprechen einer ebenso weitreichenden Zukunft begegnen. »Wer bist du?«, »Woher kommst du?«, »Wohin gehst du?« sind Fragen, die dabei mehr oder weniger bewusst durch unsere Seele ziehen. Was uns entgegenkommt, ist ein vollkommenes, durch nichts begrenztes Vertrauen. Schon in den vielen Monaten der Schwangerschaft fühlt sich das Kind geborgen, getragen, umhüllt von der Stimme der Mutter, von ihren Gedanken, Gefühlen und Taten, während sie durch all die Veränderungen hindurchgeht, die eine Schwangerschaft mit sich bringt, bis sie schließlich zusammen die Geburt durchleben, eine Erfahrung, so existenziell wie der Tod am anderen Ende unseres Erdenlebens.

Leben im Raum des Anderen

Woher kommt dieses unendliche Vertrauen, mit dem sich ein kleines Kind in die Obhut seiner Eltern begibt? Ist es nur die völlige Hilflosigkeit, ja Abhängigkeit auf Leben und Tod von ihnen, oder ist es genauso ein Wesenszug unseres Menschseins wie die Liebe der Mutter zu ihrem Kind? Mit Novalis können wir auf diese Frage antworten: »Wenn ein Geist stirbt, wird er Mensch. Wenn der Mensch stirbt, wird er Geist.« – Unser Dasein beginnt weder mit der Geburt, noch endet es mit dem Tod.

Die ersten Lebensjahre des Menschen sind eine Zeit, in der die Kinder sich ganz und gar an die Eindrücke hingeben, die sie aus ihrer Umgebung aufnehmen. Dass Kinder sich nur aufrichten und laufen lernen, wenn sie von Menschen umgeben sind, die sie nachahmen können, ist allgemein bekannt. Auch das Sprechen lernt ein Kind nur, wenn es die Sprache anderer Menschen um sich herum hören kann (mit Lautsprechern klappt das nicht). Aus der Hirnforschung wissen wir, dass das nachahmende Lernen sogar für das Denken gilt, weil es sich an der Differenziertheit der Sprache und der Wortwahl der Erwachsenen schult.

Rudolf Steiner beschreibt dieses Wunder der Nachahmung in einem Vortrag mit den Worten: »Es ist um so größeres Heil für das Kind, je mehr es leben kann nicht in seiner Seele, sondern in der Seele der Umgebung, in den Seelen der Umgebung.« Damit verweist er auf die Verantwortung der Erwachsenen, für die Kinder eine Umgebung zu schaffen, die nachahmungswürdig ist, nicht nur äußerlich, denn zur Umgebung des Kindes gehören auch die Handlungen, die wir in ihrem Beisein ausführen, ja sogar die Gefühle und die Gedanken, die wir dabei haben. Ermöglichen wir den Kindern, vorbehaltlos »in unseren Seelen zu leben« oder enttäuschen wir ihr Vertrauen durch unser Verhalten und zwingen sie, sich viel zu früh in sich zurückzuziehen?

Nach Steiner ist die frühkindliche Nachahmung eine direkte Fortsetzung unserer vorgeburtlichen, geistigen Existenz, in der wir in völliger Einheit mit Engeln lebten, deren himmlische Vorbilder uns jenes Urvertrauen einflößten, das wir nach der Geburt den Menschen in unserer physischen Umgebung entgegenbringen.

Die vier Sicherheiten

Wenn ein Kind geboren wird, erlebt es die Welt auf einmal von außen, während es vorher in der Geborgenheit des Mutterleibes für diesen Eintritt in die Welt der Sinne heran­reifen konnte. Licht, Farben, Worte, der Gesang der Vögel, das Säuseln des Windes, Motorengeräusche, die sanfte Berührung einer Hand, Wärme und Kälte, die Beschaffenheit der Dinge, die es ertastet: Alles strömt auf einmal über seine Sinne von außen auf es ein, ohne dass es sich davon abzugrenzen vermag. In den ersten Jahren des Lebens kommt alles darauf an, dass sich das Kind in seinem Körper richtig beheimatet, den es nach und nach zum Instrument seiner eigenen Seele gestalten lernt. So individuell sich dieser für die ganze weitere Biografie bedeutsame Vorgang (»Embodyment«) bei jedem Kind im Einzelnen vollzieht – er ist in unserer Konstitution begründet und ruht auf vier Sicherheiten:

• der Sicherheit im physischen Körper, indem die Eltern eine Umgebung schaffen, in der es sich beschützt fühlen darf, weil sie eine innere Ordnung hat, in der es sich frei bewegen und mit all seinen Sinnen auf Entdeckungsreise gehen kann;

• der Sicherheit im Rhythmus, der alle Lebensvorgänge unseres Organismus durchzieht und die Kinder durch gute Gewohnheiten, einen gestalteten Tageslauf, kleine Rituale, vertraute Lieder, Verse und Geschichten stark macht, emotional wie konstitutionell;

• der Sicherheit für die Seele durch Bindung und Beziehung, in dem wir uns Zeit nehmen, die Kinder wirklich zu sehen, ihnen zuzuhören, ihnen zu erzählen, mit ihnen zu lachen, sie als Teil unseres Lebens ganz lebenspraktisch und verlässlich lieb zu haben;

• der Sicherheit in der Beziehung zur Welt, indem wir den Kindern Orientierung geben, weil sie erleben, dass wir wissen, was wir tun und tun, was wir erkennen.

Weil Kinder aus dem »Himmel«, dem Inbegriff des Guten kommen, beginnen sie ihren Lebensweg mit der unbewussten Erwartung: »Die Welt ist gut.« Diese Erwartung bedarf in einer kompliziert gewordenen Welt einer immer bewussteren Antwort durch die Erwachsenen. Schön, dass uns das auch selbst nicht unverändert lässt …

Die Urgebärden des Lernens

Wenn sich ein Kind aufrichtet, nimmt es eine vollkommen neue Stellung zur Welt ein: Der Kopf wird frei, sich in alle Richtungen zu bewegen und entsprechend wahrzunehmen, Arme und Hände werden feinmotorisch intelligent, weil sie den Körper nicht mehr tragen müssen, und es lernt, sich in der Balance zu halten – was für unser Seelenleben nicht weniger wichtig ist als für unseren Körper. Die indianische Weisheit, man müsse erst in den Mokassins eines anderen Menschen gegangen sein, um über ihn urteilen zu können, deutet darauf hin, wie tief das Gehenlernen mit unserer Individualität verbunden ist.

Durch die Sprache können wir unser Innerstes so ausdrücken, dass andere Menschen uns verstehen. Durch sie können wir auch bewusst miterleben, was ein anderer Mensch fühlt oder denkt. Sprache erlaubt uns, Gedanken und Gefühle zu teilen, die sonst für immer in unserem Inneren verborgen blieben. Auf den Flügeln unseres Atems schafft sie immer neu die Grundlage unseres sozialen Miteinanders.

Unsere Sprache ist auch die erste Lehrerin des Denkens. Indem die Kinder lernen, die Namen der Dinge auszusprechen, entwickeln sie ihr gegenständliches Bewusstsein von der Welt, die sie umgibt. Irgendwann erkennen sie sich selbst als diejenigen, die den Dingen Namen geben und nennen sich fortan bei dem einen Namen, den ihnen niemand anders geben kann: »Ich«.

Gehen, Sprechen und Denken sind drei Erscheinungsformen der Freiheit, die mit uns geboren ist. Dass diese drei großen biografischen Schritte nur in der Begegnung mit anderen Menschen erfolgen können, ist eines der großen Mysterien der Menschwerdung: Wir erwachen an den anderen Menschen – zu uns selbst. Dazu müssen wir uns allerdings erst einmal vollkommen auf sie einlassen, und genau das ist es, was kleine Kinder tun – wenn man es ihnen nicht durch zu viel von zu wenig austreibt.

Das Erlangen dieser drei Grundfähigkeiten ist ein Urbild für jedes echte Lernen, das immer vom Wollen über das Fühlen zum Denken oder von der Erfahrung über die Reflexion zum Erkennen führt.

Die Welt ist schön

Als ich zum ersten Mal mit einer ersten Klasse unseren Klassenraum betrat, hatte ich für einen Augenblick das Gefühl, in einer gotischen Kathedrale zu stehen: 36 Augenpaare waren mit der feierlichen Erwartung auf mich gerichtet, dass jetzt etwas wirklich Bedeutendes geschehen würde. Die Kinder setzten das einfach voraus! Ihr durch nichts getrübtes Vertrauen ließ mich die Verantwortung, die ich für die kommenden acht Jahre übernommen hatte, geradezu körperlich spüren.

Man kann Kinder dazu anhalten, alles Mögliche rein informativ aufzunehmen, ebenso wie man sie dressieren kann, sich nur wegen Belohnungen oder Strafen anzustrengen. Mit echtem Lernen hat das aber nichts zu tun, denn zwischen Wissen und Wollen wirkt eine Kraft, die unsere Beziehung zur Welt und zu anderen Menschen entscheidend prägt: das Gefühl. Die Kinder wollen die Welt auch mit ihren Gefühlen erkunden und dafür brauchen sie Bilder. Man kann das ganz gut an dem Märchen von den »Sterntalern« der Brüder Grimm erklären: »Es war einmal ein kleines Mädchen, dem war Vater und Mutter gestorben, und es war so arm, dass es kein Kämmerchen mehr hatte, darin zu wohnen, und kein Bettchen mehr hatte, darin zu schlafen, und endlich gar nichts mehr als die Kleider auf dem Leib und ein Stückchen Brot in der Hand, das ihm ein mitleidiges Herz geschenkt hatte. Es war aber gut und fromm. Und weil es so von aller Welt verlassen war, ging es im Vertrauen auf den lieben Gott hinaus ins Feld.«

Der Rhythmus der Sprache und die schlichte Schönheit schon dieser ersten Sätze teilen sich den Kindern ohne Umschweife in ihrer Bedeutsamkeit mit. Und während sie zuhören, strengen sie ihre Phantasie an, um die Bilder innerlich neu zu erschaffen. Während sie mit ihren Herzen zuhören, wird ihr Wille im Denken aktiv.

Vertrauen in sich selbst

Das Vertrauen, das die Kinder den Erwachsenen entgegenbringen, muss sich immer mehr in ein Vertrauen in die eigene Kraft verwandeln. Wenn Lisa, die nicht so schnell im Rechnen ist, in der vierten Klasse unglaublich komplizierte Flechtmuster zeichnet und ihrem Nachbarn, dem Rechengenie Jonas dabei hilft, es wenigstens einigermaßen sauber hinzubekommen, erfahren und erkennen sie sich gegenseitig als die Könner, die sie sind. Es geht immer um das Zusammenwirken von Wollen, Fühlen und Denken.

Zum Beispiel im Chemieunterricht einer siebten Klasse. Ein Stapel Holz wird verbrannt, es ist heiß, die Flammen lodern in verschiedenen Farben und der Rauch beißt in der Nase. Auch das kann man genießen. Jetzt wird der Rauch aufgefangen und durch mit Rotkohlsaft gefärbtes Wasser geleitet. Beim Durchleiten des Rauches kann man beobachten, wie sich das Wasser immer heller färbt, während sich das Rotkohlwasser in einem zweiten Gefäß dunkelblau färbt, wenn man die Asche hineinmischt.

In der Waldorfschule führen die Kinder diesen Versuch möglichst selbst durch, sie beschreiben und zeichnen anschließend, was sie vorgefunden, getan und beobachtet haben. Zuerst geht es um präzise Beobachtung und danach darum, mit eigenen Worten das Wesentliche vom Beiwerk zu unterscheiden. Erst nach dem Durchgang durch den Schlaf wird besprochen, wie durch den Verbrennungsprozess das Rauchwasser sauer und die Aschenlauge basisch wird. Denkt man das dann zusammen mit der Photosynthese, in der der Kohlenstoff gebunden wird und an unseren Atem, in dem er ebenfalls freigesetzt wird, kann man sehr weitreichende Gespräche führen, die mitten in unserer Zeit ankommen. Entscheidend ist aber, dass die Kinder ihren Beobachtungen, ihrem Unterscheidungs- und ihrem Denkvermögen zu vertrauen lernen.

Unser kompliziertes Leben bringt mit sich, dass die dafür notwendigen Bedingungen immer bewusster gepflegt werden müssen, wenn sie nicht verkümmern sollen. Aus dem Urvertrauen in der Begegnung mit der Welt kann das Vertrauen in die eigenen Kräfte werden, wenn diese sich entfalten durften. Das ist in einer Zeit, in der uns immer mehr Entscheidungen von Maschinen abgenommen werden, wichtiger als jemals zuvor, weil wir es sind, die den Maschinen die Anweisungen geben. Ob sie von menschlichem oder unmenschlichem Geist erfüllt sind, hängt allein von uns ab. Denn Vertrauen schenken kann nur, wer sich selbst vertraut.

Zum Autor: Henning Kullak-Ublick war von 1984-2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg. Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen, den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, der Internationalen Konferenz der Waldorfpädagogischen Bewegung, Koordinator von Waldorf 100 und Autor des Buches »Jedes Kind ein Könner«.