Die pädagogische Forschungsstelle Kassel hat in der Reihe »Gestalten und Entdecken« bei der edition waldorf ein Buch herausgegeben, in dem – vom Einsteiger im ersten Jahr bis zur Kollegin mit mehr als 20 Jahren Berufserfahrung – jeder Mathematiklehrer an einer Waldorfschule Teile finden wird, von denen er und damit auch seine Schüler profitieren können.
Das Buch besteht aus 13 voneinander unabhängigen Beiträgen erfahrener Mathematiklehrer und ist in drei Teile gegliedert, deren erster sich mit allgemeinen Fragen des Mathematikunterrichts und seiner Methodik beschäftigt. Viele Anregungen zu einem ökonomisch aufgebauten und möglichst alle Schüler einbeziehenden Unterricht findet man in den Beiträgen von Rolf Rosbigalle und Stephan Sigler. Daneben leuchtet immer wieder die Rolle des Mathematikunterrichts für die geistige Schulung, die weit über das Fach hinausreicht, auf. So wird u.a. wird deutlich, inwieweit es dem Zwölftklässler entspricht, verschiedene Betrachtungsweisen nebeneinander zu stellen und auch das eigene Denken dabei in den Blick zu nehmen.
Der erste Teil schließt mit einer kurzen Betrachtung zur Bedeutung der oberen Sinne für einen gelingenden Mathematikunterricht – eine deutliche Aufforderung zur Selbstbeobachtung.
Der zweite Teil bietet unter der nüchternen Überschrift »Zur Infinitesimalrechnung« eine Fülle von Hintergrundmaterial. Hier finden sich neben vielen gut ausgewählten Zitaten von Rudolf Steiner zum Thema ein Abriss über die geschichtliche Entwicklung des Gebietes, Ausführungen zu Fragen des Unendlichen in der modernen Mathematik und im Unterricht sowie zahlreiche Literaturhinweise zur weiteren Vertiefung. Es wird der Grenze zwischen sinnlichem und sinnlichkeitsfreiem Denken nachgespürt und die Rolle von mehr am Räumlichen bzw. Zeitlichen orientiertem Mathematisieren diskutiert.
Die Lektüre wird erfahrenen Kollegen sicher viele neue Einblicke eröffnen oder manches schon »Gewusste« stärker ins Bewusstsein heben und somit zur Belebung des Unterrichts beitragen. Für den Anfänger mag sich an manchen Stellen das Gefühl einstellen, das es durchaus auch den Schülern zu vermitteln gilt: »In der Mathematik gibt es noch viele offene Fragen.« Es wäre wünschenswert, wenn diese Fragen zu anregenden Gesprächen im Kollegenkreis oder auf Tagungen führen würden. Einen wesentlichen Aspekt, der aus allen Beiträgen dieses zweiten Teils spricht, sollte jeder Mathematiklehrer täglich vor Augen haben: Die Mathematik darf nicht als etwas Gewordenes, sondern muss als etwas Werdendes erlebt werden, wenn sie für die Schüler fruchtbar sein soll. Es geht um das Gestalten des Mathematischen und um das Denken in Prozessen.
Im dritten Teil des Buches wird es ganz konkret. Uwe Hansen zeigt in seinem Beitrag auf auch für Anfänger sehr gut nachvollziehbare Weise, wie man aus einer anschaulichen Aufgabe (Schachteln unterschiedlicher Höhe) zum Verhältnis »werdender Nullen« und schließlich zum Differentialquotienten kommen kann. Erst ganz am Schluss wird dieser Denkprozess »verräumlicht« als Tangentensteigung. Hansens Ausführungen leben neben dem klaren und detaillierten Aufbau der mathematischen Einzelheiten von seinen Kommentaren, die die vom Schüler zu vollziehenden Denk- und Willensbewegungen deutlich machen.
Auch in den anderen Beiträgen findet sich diese anregende Mischung aus mathematischen Ausführungen und menschenkundlichen und didaktischen Hinweisen. Inhaltlich werden neben der Entwicklung des Differentialquotienten Extremwertaufgaben und einige Aspekte der Integralrechnung behandelt.
Ich hoffe, dass viele Mathematiklehrer das Buch für Anregungen zum Unterricht und zu Diskussionen mit Fachkollegen nutzen werden, und schließe mich dem Wunsch Stephan Siglers im Vorwort an, dass uns die Anforderungen durch das fast flächendeckend eingeführte Zentralabitur nicht vom eigentlichen pädagogischen Wert des Mathematikunterrichts in der Oberstufe ablenken mögen. Wenn wir ihn neben den Lehrplänen im Auge behalten, werden die Schüler auch für die Prüfungen gewappnet sein.
Stephan Sigler (Hrsg.): Mathematikthemen für die 12. Klasse - Ausgearbeitet nach der Unterrichtspraxis an Waldorfschulen - Schwerpunkt Differenzial- und Integralrechnung, Band 1. 1. Aufl. 2010. 224 S.