Vom Bild zum Begriff in der Unter- und Mittelstufe

Stefan Grosse

Einem kinderlosen Königspaar wurde der sehnlich gehegte Wunsch nach einem Erben schließlich erfüllt. Die Königin wollte ihr Kind jedoch nicht annehmen, da sie ein Eselein geboren hatte. Aber dieses blieb am Hof, wuchs heran und wurde, trotz seiner groben Hufe, ein Meister im Lautenspiel. Einmal erblickte es im Wasser eines Brunnens sein Spiegelbild und verließ, erschrocken über den Anblick, Hof und Heimat. An einem fremden Hof fand es durch sein schönes Musizieren Einlass und wurde schließlich der Königstochter verheiratet. Nachts konnte es die Eselshaut abstreifen und seine wahre Menschengestalt zeigen. Der alte König warf die Tierhaut ins Feuer, sodass der Königssohn seine nächtliche Gestalt auch am Tage offenbaren musste.

Gehörtes in Vorstellungsbilder umwandelnd taucht der Erstklässler in starker innerer Regsamkeit in die Bilderwelt eines solchen Märchens ein. Sie werden für ihn zur Realität, hinter der die äußere Welt zurücktreten muss. Die Macht der Bilder ist groß, sie wirken weckend und belebend und führen zu einer reichen und differenzierten Gemütsbildung. Dabei bestimmt das Kind selbst, was es von der Geschichte mit welcher Gewichtung aufnimmt, besonders aufmerksam verfolgt oder eher überhört. Es kann sich also mit den Inhalten so verbinden, wie es ihm entspricht.

Durch das hier frei wiedergegebene Märchen entsteht die kaum artikulierbare Ahnung eines Begriffs vom Menschen: Tierelemente haften ihm an. Eine verborgene Kraft treibt ihn, die Hindernisse, die ihm dadurch in den Weg gelegt sind, zu überwinden und eine Kunst zu erlernen. Eine schmerzhafte Selbsterkenntnis treibt ihn aus den Bindungen seiner Herkunft. Er strebt nach höheren Seelenkräften in Gestalt der Königstochter, erwirbt sie, und muss schließlich durch »königliche« Intervention sein verborgenes höheres Wesen dauerhaft sichtbar machen.

Dass die begriffliche Seite in dieser Altersstufe noch vollkommen in Bilder gehüllt ist, entspricht dem Wesen des Kindes. Gleichwohl ist sie wirksam, gerade weil sie verborgen ist.

Bilder ermüden nicht

Etwas anders ist die Sache beim Erlernen der Buchstaben gelagert. Hier ist der Bezug Bild-Begriff konkret auf den Erwerb einer Fähigkeit gerichtet:

Der Hans hält die goldene Gans unter dem Arm, und alle, die sie aus ungezügelter Neugier oder Habsucht berühren, bleiben an ihr kleben. Schließlich schaut die Gans sich nach den Menschen um, die nicht mehr von ihr loskommen.

Dieses Bild wird festgehalten und führt in einem Abstraktionsprozess zum Großbuchstaben »G«. Neben die innere Regsamkeit des Zuhörens und des Hervorbringens von Vorstellungsbildern tritt eine äußere Tätigkeit hinzu: das innere Bild äußerlich auf ein Blatt Papier zu bringen. In einem weiteren Schritt tritt aus dem Bild die Buchstabenform heraus. Das Schreibenlernen wird auf diese Weise an das Gemüt und an eine freie künstlerische Tätigkeit gebunden, nicht an das Memorieren und auch nicht an das mechanische Kopieren einer Form, die wenig bis gar nicht mit dem eigenen ästhetischen Empfinden korrespondiert.

Bilder in den unteren Klassenstufen sind besonders gemütvoll und lassen die Begriffe weit zurücktreten. Das verändert sich kontinuierlich bis in die achte Klasse, deren Bilder die impliziten Begriffe schon deutlich durchscheinen lassen. Grundsätzlich ist es erstrebenswert, die Inhalte der Klassenlehrerzeit, so weit es geht, bildhaft darzustellen. Das bedeutet nicht, dass man sich im Geschichtenerzählen verliert! Guter Unterricht setzt das Bild als Ausdrucksmittel verdichtet und prägnant ein. Dieser Darstellungsart können Schüler ermüdungsfrei und konzentriert folgen, wohingegen abstrakte und begriffslastige Darstellungen zu Unruhe und Konzentrationsverlust führen. Bilder, wie sie hier besprochen werden, sind vielschichtig, wandelbar, interpretierbar, regen das Ahnen an, lassen sich nicht vollständig ausdeuten, und insofern bleibt immer noch etwas übrig. Begriffe hingegen sind genau und lassen sich in einer Definition mehr oder weniger abschließend fassen. Das ist auf der einen Seite ihr Vorzug, auf der anderen ihr Problem; denn sie haben nichts Geheimnisvolles mehr an sich, und unterliegen daher der Gefahr, zu erstarren. Man kann sie gut memorieren und in ihrer unwandelbaren Form wie einen Legostein passgenau einsetzen. Für die frühen Schuljahre eignen sie sich aufgrund dieser Eigenschaften weniger gut. Sie führen das Kind zu früh aus seinem träumenden Erleben der Welt heraus.

Mitwachsende Begriffe

Der Lehrplan gibt an vielen Stellen die Möglichkeit, gleiche Bilder in unterschiedlichen Klassenstufen und Situationen einzusetzen, sie aufeinander zu beziehen und jeweils in anderer Qualität erleben zu lassen. Gerade das Schaffen von Bezügen über mehrere Klassenstufen hinweg gibt der Bewusstseins- und Urteilsbildung Tiefe und Differenziertheit und führt am Ende zu einer Art von Begriffen, die eben nicht in enge Definitionen gepresst werden, sondern komplex und lebendig sind.

Rudolf Steiner spricht in der »Allgemeinen Menschenkunde« von den mitwachsenden Begriffen und meint damit, dass die in Bildern hintergründig angelegten Begriffe sich mit dem Urteilsvermögen des Kindes weiterentwickeln können. Dies geschieht vor allem dann, wenn sie in unterschiedlichen Klassenstufen wiederholt aufgerufen werden. In den dazwischenliegenden Latenzphasen wachsen sie weiter und treten reicher ausgestaltet wieder ins Bewusstsein.

Ein Lamm trank aus einem Fluss, als stromabwärts ein Wolf es beschuldigte, sein Wasser zu trüben. Des Weiteren müsse es sich daran erinnern, dass sein Vater ihn, den Wolf, vor einem Jahr beleidigt habe. Als das Lamm ängstlich widersprach, hielt der Wolf dagegen, dass die Rede unverschämt sei und den Hass der Schafe gegen seinesgleichen belege. Dafür und für die Vergehen seiner Vorfahren solle es jetzt büßen, worauf er das Lamm zerriss.

Die Stadt Gubbio wurde von einem wilden Wolf in Angst und Schrecken gehalten. Der heilige Franziskus von Assisi ging dem Wolf unbewaffnet und furchtlos entgegen, besiegte ihn mit dem Kreuzeszeichen und versprach ihm, dafür zu sorgen, dass er genug zu fressen habe, wenn er die Menschen in Frieden lasse.

Zwei Bilder vom Wolf aus der zweiten Klasse. In der Fabel wird die ungeläuterte Seele in der Gestalt und dem Verhalten von Tieren geschildert, in der Heiligenlegende die geläuterte, die diese Seelenkräfte beherrschen kann. In der fünften Klasse wird im Zuge der Schilderung des Sesshaftwerdens der Menschheit von der Domestizierung des Wolfes berichtet, der nun als Haustier zum Behüter seiner ursprünglichen Beute wird. Was in der früheren Klassenstufe Bild für einen seelischen Vorgang war, wird nun geschichtliches Ereignis. Dabei schwingen die alten Bilder mit und bereichern das Gefühl von der Größe der Aufgabe, die lautet, ein Tier so zu beherrschen, dass es seine natürliche Beute nicht mehr auffrisst, sondern beschützt.

Sehschulung

In der Physik-Epoche der sechsten Klasse liefern die Chladnischen Klangfiguren eindrückliche Bilder einer neuen Qualität: Feiner Sand oder feines Pulver wird auf eine an einem Bolzen zentral befestigte horizontale Metallplatte gestreut und diese dann mit dem Geigenbogen durch seitliches Streichen in Schwingung versetzt. Die Staubkörner auf der vibrierenden Platte ordnen sich zu einem regelmäßigen geometrischen Muster. Ein Bild ist entstanden. Abgebildet ist die Wirksamkeit physikalischer Kräfte, die im Klang leben. Im Bild wird der komplexe naturgesetzliche – begriffliche – Zusammenhang erlebbar und ahnend erfassbar, und es bleibt darüber hinaus ein ästhetischer Eindruck von der Schönheit der Formen zurück. Durch das Bild ist eine Tiefe entstanden, die durch das reine Ausdeuten der Naturgesetze in Formeln und Begriffen so nicht hätte entstehen können.

In der Geometrie wird ein besonderes Verhältnis von Bild und Begriff ersichtlich: Hier kann man den Begriff »sehen«, er wird anschaulich. In der Zeichnung sieht man, dass Gleiches von Gleichem weggenommen, Gleiches ergeben muss, nämlich die flächengleichen, nicht kongruenten Rechtecke a und b.

Der Beweis wäre nur die in Worte gefasste Blickführung oder Sehschulung, der Gedanke ist durch das Bild evident.

Ursache und Wirkung erfahren

Aus dem Geschichtsunterricht der 7. Klasse mögen die folgenden Beispiele den sich entwickelnden Bezug von Bild zu Begriff weiter veranschaulichen:

Der portugiesische Infant Heinrich der Seefahrer lässt die damals gebräuchlichen Schiffe durch viele kleine technische Verbesserungen hochseetauglicher machen sowie die Kapitäne der Krone in nautischen Schulen in Navigation, Logbuchführung und Kartografie ausbilden. Sein Auftrag an sie lautet, die westafrikanische Küste nach Süden auf Sicht entlang zu segeln und zu kartografieren. Auf diese Weise umrunden die Portugiesen 1488 das Kap der Guten Hoffnung. Das Verfahren ist empirisch und, wenn man so will, relativ irdisch. Man braucht dazu keinen Begriff von der Gestalt der Erde, man vertraut vielmehr seinen Augen, kommt Stück für Stück voran und könnte die Fahrt auch jederzeit abbrechen. Es gibt keinen wirklichen Point of no Return.

Vier Jahre nach der Entdeckung des Kaps der Guten Hoffnung macht sich Christoph Kolumbus auf, Indien zu entdecken. Er hat einen klaren Begriff von der Kugelgestalt der Erde. Er verlässt die sichere terrestrische Linie und segelt ins Nichts des unbekannten Ozeans. Die einzige Sicherheit, die er besitzt, ist ein Gedanke. Sowohl Heinrich der Seefahrer als auch Kolumbus liefern Schlüsselbilder für den radikalen Umbruch in eine neue Epoche. Sich vollkommen auf die Gedanken zu verlassen und die Richtigkeit des Ergebnisses dann durch die Wirklichkeit bestätigt zu bekommen (Kolumbus) sowie ein forschendes Trial-and-Error-Verfahren einzusetzen (Heinrich der Seefahrer) sind die beiden Methoden, mit denen in der Neuzeit die Welt erobert wurde.

Zwei Männer des 19. Jahrhunderts prägten mit ihren Ideen in gravierender Weise das Bewusstsein und die Geschichte des 20. Jahrhunderts: Karl Marx und Charles Darwin; sie mögen beispielhaft für die Bearbeitung des Themas in der 8. Klasse stehen.

Karl Marx, ein rastlos produktiver Intellekt, der, immer aufbegehrend, als Heimatloser durch halb Europa getrieben und schließlich, krank und mittellos, im Norden Londons als Exilant geduldet wird. Nur dank der ständigen finanziellen Unterstützung durch seinen Freund Friedrich Engels kann er mehr schlecht als recht existieren. Er analysiert die sozialen Verwerfungen seiner Zeit sehr genau und entwickelt daraus die Idee des perpetuierten Kampfes der Klassen als Motor der Geschichte. Die gestaltende Kraft im Sozialen ist der Kampf.

Charles Darwin, der als Kind am liebsten fein beobachtend die Natur durchstreift, soll, wie der Vater, Arzt werden. Als beim ersten chirurgischen Eingriff, dem er beiwohnt, Blut fließt, wird er ohnmächtig. Er muss das Studienfach wechseln und studiert aus Mangel an besseren Alternativen Theologie. Kurz nach Abschluss des Studiums wird er zu einer fünfjährigen Weltumsegelung als wissenschaftlicher Begleiter eingeladen. Mit größter Gewissenhaftigkeit protokolliert er unzählige Daten, macht fortlaufend signifikante Beobachtungen und legt eine riesige Sammlung von Fundstücken an. Wieder zu Hause, heiratet er seine Cousine und lebt mit seiner Familie in einem kleinen Ort in Südengland, den er praktisch bis zu seinem Lebensende nicht mehr verlässt. Er wertet in der Stille seines Arbeitszimmers die Protokolle und Sammlungsstücke seiner Forschungsreise aus und kommt zu dem Ergebnis, dass die Entwicklung in den Naturreichen durch einen fortdauernden Überlebenskampf stattfindet.

Zweimal der gleiche Gedanke für unterschiedliche Lebensfelder, einmal für die Natur, einmal für die Gesellschaft: Kampf als die gestaltende Kraft, eine Kraft, in deren Zentrum die Vernichtung steht. Sie setzt eine Mechanik in Gang, die unsere natürliche und gesellschaftliche Welt erschaffen haben soll. In den Naturwissenschaften führt Darwins Idee zu einem stark mechanistisch geprägten und schließlich reduktionistischen Natur- und Menschenbild; und die Ideen von Karl Marx finden in den kommunistischen Staats- und Sozialsystemen, die dann als Folge ihrer Entfaltung zwei Weltkriege mit auslösen, ihren Niederschlag.

Indem der darwinsche Zuchtwahl-Gedanke im Rassismus als gestaltende Kraft im Sozialen wirkt, entsteht eine unheilige Allianz, die nicht erst 1933 ihre zerstörerische Kraft entfaltet, sondern schon in der Balkankrise vor dem Ersten Weltkrieg, aber auch beispielsweise in der Ideologie der Jungtürken und deren Behandlung der Armenier, zutage tritt.

Die Bilder entstehen hier in erster Linie durch die Biografien von Marx und Darwin. Die Ideen aber treten in den oberen Klassen der Mittelstufe immer stärker hervor. Zudem umgibt die beiden Lebensbilder eine merkwürdige Aura. Man sieht diese Menschen an ihren Schreibtischen sitzend ihre Gedanken entwickeln. Dann aber werden sie ihnen wie aus der Hand geschlagen und entfalten eine nicht mehr steuerbare geschichtliche Dynamik. Aus diesen Bildern lassen sich anschaulich Bedingung und Folge in den geschichtlichen und gesellschaftlichen Ereignissen eines ganzen Jahrhunderts ableiten.

Von der Exploration über die Reflexion zur Abstraktion

Auf die Explorationsphase der Unterstufe folgt in der Mittelstufe die Reflexionsphase. In der Abstraktionsphase der Oberstufe besteht die Aufgabe darin, die Begriffe in Reinheit auszubilden. Die Unterstufe führt zu einem möglichst umfassenden Erleben der Welt durch Tätigkeit und zu der Bildung des Gemüts durch lebendige Vorstellungen. In der Mittelstufe wird auf diese Erlebnisse Bezug genommen, sie werden nun aber in einem größeren Zusammenhang von Vorstellungen reflektiert.

Folgendes Beispiel mag das Gesagte veranschaulichen: In der 3. Klasse stellen die Kinder Lehmziegel her und errichten ein kleines Bauwerk. In der 5. Klasse hören sie im Geschichtsunterricht von den Zikkuratbauten der Mesopotamier. Es obliegt der Oberstufe, einen Begriff vom Sesshaftwerden der Menschheit und den sich auf dieser Lebensform aufbauenden Hochkulturen auszubilden.

Insofern legt die Unter- und Mittelstufe in zwei Schritten den Grundstock, der dann in der Oberstufe in der Abstraktion expliziert werden muss. Viele solcher aus den Bildern der unteren Klassen vollzogenen Explikationen münden schließlich in dem komplexen Begriff des Menschen. »Sie werden ihm [dem Kind] nicht über die Einzelheiten des Lebens tote Begriffe geben dürfen, die nicht bleiben dürfen; Sie werden ihm lebendige Begriffe über die Einzelheiten des Lebens und der Welt geben müssen, die sich mit ihm selber organisch entwickeln. Aber Sie werden alles auf den Menschen beziehen müssen. Zuletzt wird alles in der Auffassung des Kindes zusammenströmen müssen in der Idee vom Menschen … Aber man baut den Begriff vom Menschen ja erst allmählich auf, man kann dem Kinde nicht einen fertigen Begriff vom Menschen beibringen. Hat man ihn aber aufgebaut, dann darf er bleiben. Es ist sogar das Schönste, was man dem Kinde von der Schule ins spätere Leben mitgeben kann, die Idee, die möglichst vielseitige, möglichst viel enthaltende Idee vom Menschen« (Rudolf Steiner, GA 293, S. 147 f.).

Zum Autor: Stefan Grosse ist seit 1984 Klassenlehrer und Lehrer für freien Religionsunterricht an der Freien Waldorfschule Esslingen. Mitglied im internationalen und im deutschen Religionslehrergremium. Seit 2014 Vorstandsmitglied des Bundes der Freien Waldorfschulen.