Vom Himmel auf die Erde blicken

»Ich bin zurzeit nicht auf dem Planeten. Zurück im Mai.« So lautete die Abwesenheitsnotiz von Samantha Cristoforetti, als sie 2014 zweihundert Tage auf der ISS, der Internationalen Raumstation, verbrachte. Auszüge aus einem Gespräch auf der Erde, bevor es 2022 wieder in die Weiten des Weltalls geht.

Maria A. Kafitz | Wann begann Ihr Traum, in den Weltraum zu fliegen?

Samantha Cristoforetti | Ich bin in einem ganz kleinen Dorf im Trentino aufgewachsen. In solch einem Dorfmilieu haben die Eltern keine Angst, wenn die Kinder den ganzen Tag draußen herumlaufen. Und das haben wir auch getan – wir waren einfach die ganze Zeit draußen. Ich denke, hierbei entwickelt man erstens ein Gespür für kleine Abenteuer und große Freude daran, zweitens aber auch – und das hilft fürs ganze Leben – Selbstbewusstsein. Ich bin mit einem Gefühl der Selbstsicherheit und auch des Vertrauens in die Menschheit groß geworden. Und auch mit einer Nähe zur Natur und dem Sternenhimmel. Bei uns gab es nicht so viel Beleuchtung in der Nacht, irgendwann waren die Straßenlaternen aus und man konnte die Sterne sehen. Das habe ich geliebt. Das hat aber auch sehr viele Fragen in mir aufgeworfen: Wie viele sind das? Wie weit sind sie weg? Wie ist es dort? Was hat das alles hier auf der Erde für einen Sinn?

MAK | Laut Rüdiger Seine, dem Leiter der Astronautenausbildung bei der ESA, müssen Astronauten vor allem teamfähig sein.

SC | Man fliegt ja nicht allein in den Weltraum, man ist immer Teil einer Besatzung. Das ist uns allen bewusst, gerade bei Langzeitmissionen. Wenn man sechs Monate unterwegs ist und irgendetwas in der Zusammenarbeit mit den Kollegen nicht stimmt, ist das psychologisch sehr belastend, und irgendwann kann man dann einfach auch nichts Gutes mehr leisten. Es wäre unter Umständen auch gefährlich, wenn die Kommunikation nicht stimmt, wenn es im Team keine Harmonie gibt.

MAK | Wie ist es, wenn man sich schwerelos bewegen kann?

SC | Eine Schauspielerin, die sich darauf vorbereitete, eine Astronautin zu spielen, wollte ein Gefühl für Schwerelosigkeit entwickeln. Eine Kollegin von mir gab ihr folgendes Bild zum Üben mit: Stell dir vor, du spannst ein Haar zwischen den Fingern und dann stößt du dich an einer Tischkante mit diesem Haar ab, aber so sanft, dass das Haar nicht kaputt geht, also ganz, ganz leicht. Diese Kraft reicht, damit du genug Schwung bekommst, um dich in eine andere Richtung zu bewegen. So leicht, so mühelos ist das.

MAK | Und wie ist es, nach einem Gefühl der vollkommenen Leichtigkeit wieder schwer zu werden?

SC | Das ist furchtbar! Als ich in den Weltraum kam, habe ich es als befreiendes Gefühl empfunden, dass man die eigene Schwere überwindet. Doch wenn man zurückkommt, geschieht das genaue Gegenteil! Es gibt keine sehr großen Schwierigkeiten, da oben zu leben. Die Schwierigkeiten entstehen erst, wenn man zurückkommt. Ich habe inzwischen die Erfahrung zweier Schwangerschaften gemacht – das ist schon härter, was das mit dem Körper macht und wie lange es dauert, bis man wieder fit ist.

MAK | Als sie Kind waren, hat der Blick in den Sternenhimmel Fragen in Ihnen ausgelöst. Was hat der Blick vom Weltraum auf die Erde in Ihnen bewirkt?

SC | In der Nacht sieht man die Städte und Lichter, und das ist natürlich mensch­liche Zivilisation. Aber wenn man tagsüber aus der Kuppel der ISS hinausschaut, dann sieht man die Strukturen der Erde, die großen Gebirgsketten, die Wüsten und in den Wüsten jene Orte, wo Meteoriten eingeschlagen sind. Und man sieht die Trennungen der Kontinente. Das sind Dinge, die auf Hunderten Millionen von Jahren basieren. Im Vergleich dazu ist die Menschheitsgeschichte wirklich nur ganz kurz. … Von da oben habe ich das irgendwie visuell gespürt. Plötzlich dachte ich mir: Die alten Zivilisationen, die mir immer als weit entfernt erschienen, die alten Ägypter, die alten Griechen, die alten Römer, waren auf einmal sehr, sehr nah. In Bezug auf die Erdgeschichte ist für uns Menschen eigentlich noch gar nicht so viel Zeit vergangen. Die alten Kulturen waren Menschen wie du und ich. Wir könnten uns wahrscheinlich ganz gut verstehen, und in meiner Art zu denken, würden sie sich selbst wohl wiederfinden, weil vieles sehr direkt auf sie zurückzu­führen ist. In Kilometern und Jahreszahlen war ich auf der ISS zwar weit entfernt, aber die Geschichte unserer Zivilisation war ganz nah.

Bearbeiteter Auszug aus a tempo – Das Lebensmagazin 08/2021.

Von Samantha Cristoforetti erschien bei Penguin das Buch Die lange Reise: Tagebuch einer Astronautin, in dem sie über die Erlebnisse ihrer ersten Mission auf der ISS und ihren Weg dorthin berichtet.