Vom Schulhof zur Hofschule

Erziehungskunst | Was beschäftigt Sie zur Zeit?

Tobias Hartkemeyer | Corona bewegt die Welt und auch uns, ich sehe darin eine Bestätigung unserer Arbeit auf Hof Pente. Die Tatsache, dass Viren uns mehr zu schaffen machen, sehe ich als Zeichen, dass das natürliche Gleichgewicht des Ökosystems und damit auch der individuellen Gesundheit an eine Belastungsgrenze gekommen sind. Hier ist unsere Verantwortung im praktischen Handeln gefragt.

EK | Was machen Sie denn auf Hof Pente?

TH | Wir haben hier seit zehn Jahren eine CSA – eine solidarische Wirtschaftsgemeinschaft –, für die der Hof Produkte bereitstellt. Im Gegenzug ermöglichen die Mitglieder durch jährlich verabredete Beiträge, die sie im voraus entrichten, eine Finanzierung des landwirtschaftlichen Betriebs. Viele helfen bei der Ernte oder sonstigen Aktionen mit, wieder andere beteiligen sich an den langfristigen Prozessen und Entwicklungen des Ortes. Das ist aufwendig, aber es macht Freude, etwas wirklich Sinnvolles gemeinsam mit Menschen zu machen, die mehr als »Kunden« sind.

Auf dieser sozialen Grundlage betreiben wir vielfältigen biodynamischen Landbau und gestalten so ganzheitliche Lebenszusammenhänge, an denen eine gemeinsame Entwicklung mit der Erde möglich wird – und die Kinder dürfen hieran Teil haben. Seit neun Jahren haben wir einen Hofkindergarten und seit zwei Jahren auch eine Hofschule als Waldorfschule in Gründung.

EK | Was führte Sie zu dieser Aufgabe? Wie sah Ihr eigener Bildungsweg aus?

TH | Ich bin hier auf dem Hof aufgewachsen, da war zwar noch wenig Landwirtschaft, aber viel los. Mein Vater hat viel gebaut und gemacht, gleichzeitig war er auch Direktor der Osnabrücker Volkshochschule. Er hatte viele praktische Fähigkeiten und wir hatten eine riesige Werkstatt. Als Kind war ich überzeugt, dass mein Vater alles kann, der baut mir, wenn es sein muss, auch eine Rakete, mit der ich auf den Mond fliegen kann.

Auf der anderen Seite: Mit der Schule kam ich überhaupt nicht klar. Ich hatte immer das Gefühl, der Lehrer will mir seinen Willen aufzwingen und ich verstand nicht warum es sinnvoll wäre, tätig zu werden, mir fehlte der Zusammenhang. Man konnte mir nicht klar machen, wozu ich etwas lernen sollte. Mit der Zeit wurde ich wütend und habe dann nicht mehr mitgemacht. Ich wollte nicht mehr ein Objekt sein.

EK | Und was geschah dann?

TH | Meine Eltern waren Akademiker und haben das reflektiert: »Was machen wir mit dem Jungen?« Ihre Rettungsaktion: Sie schickten mich auf die Waldorfschule. Da kam ich in die sechste Klasse und da gab es die künstlerischen und handwerklichen Fächer, die vielen Theaterspiele und das erste Mal einen tollen Klassenlehrer, den ich sehr bewundert habe.

Aber so in der elften, zwölften Klasse – damals habe ich viel meditiert, Tai-Chi und Yoga gemacht – wollte ich zum Beispiel wissen, warum wir Eurythmie machen? Das konnte oder wollte man mir nicht sagen. Ich hatte tiefe Fragen und man sagte mir nur: »Das ist gut für dich!« Dann war es auch an der Waldorfschule vorbei und ich habe nicht mehr mitgemacht.

EK | Wie sind Ihre Eltern mit dieser erneuten Verweigerung umgegangen?

TH | Die haben auch mit mir Probleme bekommen und mein Vater sagte: »Wir müssen uns mal mit uns selber auseinandersetzen.« Daraufhin haben sie sich mit dem Thema Dialog beschäftigt und an ihrer Haltung gearbeitet.

Das hat sich auf mich ausgewirkt und der Dialog ist bis heute Thema geblieben. Ich bin nach der Schule, ohne Abitur, mit den Freunden der Erziehungskunst ins Ausland gefahren. Als ich zurückkam, habe ich dann mein Abitur nachgeholt und an der Fachhochschule mit konventionellen Landwirten ein landwirtschaftliches Studium begonnen, bis ich wieder zu viele Fragen gestellt habe …

EK | Wie verlief Ihre weitere akademische Laufbahn?

TH | Ich ging zum Dottenfelder Hof, wo ich die Anthroposophie kennengelernt und ein Jahr lang studiert habe – das war für mich einfach nur sinnvoll. Ich konnte meine Fragen stellen, ohne an eine gläserne Decke zu stoßen. Danach bin ich ins Ausland ans Schumacher College und danach nach Witzenhausen gegangen, um dort ökologische Landwirtschaft zu studieren.

Meine Promotionsstelle im Rahmen eines Forschungsprogramms zu Lebensstilen, Ernährungsstilen und Naturverständnis war spannend. Ich konnte mich im Wesentlichen mit Salutogenese – der Entstehung von Gesundheit –, Waldorfpädagogik und Landwirtschaft beschäftigen. Damals besuchte ich auch immer wieder Kurse am Waldorfseminar in Kassel. Ich lernte Peter Guttenhöfer und Manfred Schulze kennen. Das sind Freundschaften, die bis heute die Grundlage meiner Arbeit – der Handlungs-
pädagogik – bilden.

Auch an der Uni und am Seminar habe ich gemerkt, dass Fragen zu stellen problematisch ist. Ich wollte aber keine Denk-Schranken um mich, ich wollte lernen und forschen. Ich fand das nicht richtig, trotzdem habe ich meine Promotion durchgezogen und parallel auf Lehramt studiert. Ich war auf der Suche nach dem lebendigen Zusammenhang.

EK | In Ihrem Leben sind Fragen wichtig. Wonach genau haben Sie gefragt und was daran hat Menschen überfordert?

TH | Die Frage nach dem Sinn. Der Sinn kommt für mich aus einem Zusammenhang, den man erfahren und gestalten kann. Sinn ergibt sich aus dem Kontext, er ergibt sich aus der konkreten Wahrnehmung der Umweltbedingungen, der anderen Menschen, der Gemeinschaft und dem gesellschaftlichen und geistig-kulturellen Umfeld, in dem wir leben.

EK | Was führte Sie wieder auf den Hof zurück?

TH | Mit meiner Frau, die auch Landwirtin ist, bin ich hierher zurück gekommen. Wir haben ein Forschungsprojekt zum Anbau der Lichtwurzel gemacht und merkten, praktische soziale Fragen sind akuter. Über Freunde haben wir dann die Solidarische Landwirtschaft (CSA) kennengelernt und waren begeistert. Das ist ein ganz anderes Lebenskonzept mit grundlegenden Fragen: Wie können wir gemeinsam sinnvoll mit Boden, Pflanzen und Tieren umgehen? Wie können wir gemeinsam eine ökonomische Grundlage bilden, die allen soziale Teilhabe ermöglicht und dabei noch einen Raum schafft, wo Kinder – unsere Zukunft – eine Rolle spielen. Für mich ist Landwirtschaft nicht nur eine ökonomische Tätigkeit, sondern ein ganz lebenspraktischer Lernort.

EK | Was haben Sie beim Aufbau gelernt?

TH | Für mich wird immer stärker erlebbar, dass die Gestaltung gesunder Zusammenhänge im ganz Praktischen das Essentielle ist. Das steht der Online-Bildung erstmal diametral gegenüber. Das Umweltbundesamt hat zum Beispiel in einer Studie herausgefunden: Je höher der Bildungsgrad einer Person, umso höher die von Menschen verursachten Umweltschäden. Wir haben uns dann gefragt, wie das sein kann und sind darauf gekommen, dass das mit der Trennung von Denken, Fühlen und Handeln zusammenhängt.

Wir versuchen hier Denken, Fühlen und Wollen durch sinnhafte Selbstwirksamkeitserfahrung zusammenzuführen. Unsere pädagogische Arbeit hat sich – auch durch Peter Guttenhöfer und Manfred Schulze inspiriert – zur Schule entwickelt.

In der lebendigen Gemeinschaft aus Boden, Pflanze, Tier und Mensch, Mitarbeiter, Kinder und Eltern wird der sinnvolle Zusammenhang erlebbar. Hier kann Selbstwirksamkeit erfahren werden. Hierzu gehört auch das künstlerische Element, Singen, morgendliche Eurythmie, Theater, gemeinsames Essen – das alles half uns, als Gemeinschaft zusammenzuwachsen. Die vielfältigen Herausforderungen auf dem Hof bieten unzählige Lernmöglichkeiten auch für die Schüler.

EK | Wie muss ich mir einen Schulalltag vorstellen?

TH | Die Zukunft wird sehr radikal sein – vor allem im Hinblick auf die technische Entwicklung – und wir müssen uns darauf vorbereiten. Ich war vor einiger Zeit auf einer Agritechnika-Messe und da gab es riesige, autonome Robotersysteme, die die Erde bearbeiten und daneben standen Farmsimulatoren, hier spielten Menschen an Bildschirmen, dass sie arbeiten. Maschinen übernehmen große Teile unserer Arbeit, während wir so tun, als ob wir arbeiten würden. Da stellt sich die Frage neu: Was heißt Mensch sein?

Unsere Antwort auf diese Herausforderung ist, ein anderes Lernen und eine entsprechende Lernumgebung zu entwickeln, das heißt, Kinder in sinnvolle Prozesse einzubeziehen. Lernen geht bei uns über Beziehung, sinnvolles Tun auf dem Acker, in der Küche und in der Buchhaltung. Man lernt dadurch konkretes Handeln, praktisches Denken und die Empfindung, dass die Dinge zusammengehören, von Tag zu Tag.

Die Kinder treffen sich am Morgen, es gibt einen Raum zur gegenseitigen Wahrnehmung. Es wird gesungen und gemalt, Aufgaben werden verteilt und Lernvorhaben besprochen. Dann geht es in die konkrete Arbeit und am Ende kommen alle wieder zusammen, um den Tag gemeinsam zu beschließen.

EK | Wie ist das mit Jugendlichen auf dem Hof?

TH | Wir arbeiten mehr altersübergreifend und sind eine kleine Schule, um das Gleichgewicht vor Ort nicht zu zerstören. Mit Jugendlichen haben wir noch nicht viel Erfahrungen und müssen das noch lernen. Je mehr Kinder in der echten Welt auf echte Fragen und Erfahrungen treffen, desto fruchtbarer können sie später auch virtuelle Möglichkeiten fürs Lernen und für Lösungen in dieser Welt nutzen.

EK | Sie leben auf dem Land, da ist es relativ einfach, ein solches Handlungskonzept umzusetzen … Was können Schulen im urbanen Umfeld tun?

TH | Den Schulgarten an die lokale Gemeinschaft und deren Bedürfnisse anschließen (Solawi und Urban Gardening), oder im Werkunterricht, in der Reparaturwerkstatt können kaputte Gegenstände der Schulgemeinschaft – die gebraucht werden – wieder funktionstüchtig gemacht werden. Tätigsein nicht primär als pädagogischer Selbstzweck, sondern weil es gebraucht wird und weil ich helfen kann und mich dadurch als selbstwirksam erlebe. Dadurch entsteht ein neuer Sinn und Zusammenhang – für die Erde, für die Schulgemeinschaft und für das weitere Umfeld.

Das Interview führte Matthias Niedermann