Vom Umgang mit dem »Lehrplan« – eine Frage der Haltung

Erziehungskunst | Gibt es in der Unter- und Mittelstufe Themen im Lehrplan, die Sie aus heutiger Sicht umarbeiten oder neu setzen würden?

Christoph Doll | Grundsätzlich geht es darum, sich darauf zu besinnen, aus welchen Gesichtspunkten in bestimmten Altersstufen die Themen gegeben wurden und immer wieder neu abzuprüfen, ob die Gründe, warum eine Klassenlehrerin oder ein Klassenlehrer ein bestimmtes Thema aufgreift, trefflich sind für die Klasse, die sie jetzt gerade unterrichten. Ich gehe davon aus, dass die meisten Lehrkräfte dies tun. Ganz gleich, ob es Waldorf heißt oder nicht. Wenn dies alle tun, dann brauchen wir die Waldorfbewegung vielleicht nicht mehr, denn dann ist alles »Waldorf«, weil es gut ist für die Kinder.

Die Gefahr ist die, dass Themen, die einmal als sinnreich ergriffen wurden, nur noch als Tradition weiter existieren und kopiert werden. Dies wäre einerseits keine Überraschung, bei einer über 100 Jahre alten Schulbewegung, umso mehr gilt es aber auch zu schauen, in welcher Weise zeitgemäße Gesichtspunkte die Lehrplanaufgaben bereichern können.

EK | Ein Beispiel: In der Unterstufe gehören zum Unterrichtsstoff die Schöpfungsmythen, die nordische Mythologie, insbesondere die Edda. Warum werden sie unterrichtet?

CD | Die Möglichkeit zu erzählen, bietet Anlass für eine Vielfalt von Überlegungen und Gesichtspunkten – wie selbstverständlich jeder Unterrichts­inhalt in den unterschiedlichen Klassen –, die neben­einander stehen können. Ich muss als Lehrpersönlichkeit abwägen und entscheiden, was für meine Klasse das Richtige oder das Fördernde ist – darin liegt meine pädagogische Souveränität. Gut, nehmen wir die Schöpfungsgeschichte in der dritten Klasse: Wir alle wissen über den Rubikon Bescheid. Dass die Kinder in diesem Alter oft die Frage in sich tragen: »Woher komme ich«, das haben wir alle schon erfahren. Und im Allgemeinen antworten wir auf diese Frage mit dem Schöpfungsmythos des Alten Testaments – der Genesis. Das ist auch gut und richtig in unserer Kultur, in unserem Sozialisierungsumraum, der uns prägt.

Ein Mythos ist ein Weltgeschehen in ein großes Bild gefasst, welches die Menschen vor sehr langer Zeit ergriffen und sich weiter erzählt haben. Wenn dieser Mythos nun erzählt wird, so sollte dies nur dann geschehen, wenn die oder der Erzählende tatsächlich auch etwas mit diesen großen menschheitlichen Bildern verbindet, wenn er oder sie diese verinnerlichen und zu bild(e)-kräftigen Sprachereignissen machen können. Um auf die Frage zurückzukommen: Wie wäre es, den Gedanken aufzunehmen, Schöpfungsmythen aus verschiedenen Kulturen und Weltregionen zu erzählen? Es weitet sich das Gefühl für die Welt, ohne dass das Kind aus seinem gewohnten Umfeld herausfliegt. Die Erzählungen beispielsweise der Maori oder die Mythen der Inuit sind herrliche Bildgeschehen, in die die Kinder mit Begeisterung eintauchen und Tiefe erleben – natürlich gilt auch hier, dass die jeweils Erzählenden diese Bilder wiederum zunächst in sich verlebendigen. Dadurch, dass die Klassenlehrerin oder der Klassenlehrer diese Bilder »übermittelt«, kommt die Vielfalt in die erlebte Einheit der Welt, ohne Trennung oder Vereinzelung, sondern aus der weiten Haltung der Lehrpersönlichkeit. Religiöses Empfinden im weitesten Sinne wird hier angelegt – ist es doch ein Hauptanliegen, soziales, ästhetisches und religiöses Empfinden anzuregen. Genau dies gilt auch für den Erzählstoff der vierten Klasse.

Welcher Gesichtspunkt spricht für die nordische Mythologie? Wir verstehen die Situation der Kinder zum Ende des Rubikons, das Verhältnis zur Welt hat sich verändert: »Die Welt spricht nicht mehr zu mir, die Götter haben mich verlassen.« Eine solche Götterdämmerung findet sich z.B. in der Edda wieder, in der in großen Bildern von der Untergangsschlacht der Götter berichtet wird und nur ein lichter Gott möglicherweise für die Zukunft wirksam wird. Das kann eine Begründung sein. Diese Götter­dämmerungsmythen und -sagen finden sich aber auch in anderen Kulturräumen.

Mit der Edda kann man es aus verschiedenen Gründen schwer haben, sie zu verlebendigen und ihre Bilder zu »fassen«. Nochmals: Es gibt kein Muss, diesen Mythos in der vierten Klasse zu erzählen. Wenn eine Lehrkraft aus bestimmten Gesichtspunkten sich entscheidet, dies zu tun, dann mag es richtig sein. Aber es gibt wohl doch Alternativen, auch wenn die Welt der Ritter, von Wieland dem Schmied und den kunstfertigen Zwergen, für die Schülerinnen und Schüler einer vierten Klasse, in diesem sprachmächtigen Gewand richtig erscheinen. Vielleicht finden sich aber auch andere Geschichten, die diesen entwicklungsgemäßen Ich-Erfahrungsimpuls der Kinder unterstützen.

Es gibt nicht die Regel, in welcher Weltregion welcher Erzählstoff, welcher Mythos ergriffen wird, da dies eine rein pädagogische Entscheidung ist. Aber sehr wohl gilt die Regel: Es gibt keinen vorgeschriebenen Erzählstoff, es gibt letztlich nur die pädagogische Entscheidung der Lehrkraft!

EK | In der Begleitung in den Praktika erleben Sie auch die Kinder. Nehmen Sie Veränderungen wahr? Wie steht es mit der Nachahmungsfähigkeit der Kinder in den ersten Schuljahren? Wie wird die Lehrerpersönlichkeit von den Kindern wahrgenommen? Gibt es noch so etwas wie die von Steiner beschriebene »geliebte Autorität«?

CD | Auch wenn es selbstverständlich richtig ist, dass die Kinder, die eine Schulfähigkeit erreicht haben, die Möglichkeit zur Nachahmung in sich tragen, müssen wir uns bewusst sein, dass diese Kräfte nicht einfach zur Verfügung stehen, sondern durch Sozialisierung und Prägung beeinflusst, nicht mehr nur unbewusst wirken. Das heißt, der oft kolportierte Satz: »Die Kinder in der ersten Klasse ahmen alles nach«, der stimmt nicht in dieser Kürze. Aber auch der Satz, den man heute öfter hört: »Die Kinder ahmen nicht mehr nach«, stimmt so nicht. Vielmehr nehme ich wahr, dass es für die Lehrpersönlichkeiten darum geht, in ihren Haltungen, in ihrem Sein für die Kinder nachahmenswert zu sein. Darin steckt ein Übungsweg der Lehrenden; eine Aufgabe, die anerkennt, dass die Kinder eine Möglichkeit haben, fein wahrzunehmen, wen oder was sie nachahmen. Ich meine damit, dass es vielleicht heute noch mehr darauf ankommt, sich würdig zu machen, nachgeahmt zu werden! Es ist ein Prozess, keine Gegebenheit!

Wenn ich mich auf einen solchen Weg mache, dann erfülle ich möglicherweise die Voraussetzung, dass ich als geliebte Autorität angenommen werde – nach meinen Beobachtungen geschieht das aber nicht mehr unbedingt mit der Selbstverständlichkeit wie früher.

EK | Hat sich auch auf Seiten der Studierenden etwas verändert?

CD | An den Studierenden nehme ich wahr, dass sie sich mit einer großen Ernsthaftigkeit und Behutsamkeit auf den Weg in ihren Beruf machen. Dabei spielen die jeweilige spirituelle Suche und der Austausch im Team eine große Rolle. Es herrscht eine große Offenheit, eine Kultur des konstruktiv-kritischen Austauschs und eine tiefe Achtung vor dem Kind und der Verantwortung vor dem Beruf.

Die Bereitschaft aller an der Erziehung des Kindes be­teiligten Menschen zu berücksichtigen, ist immens. Es wird viel mehr auf den einzelnen Menschen und den Moment der Begegnung geachtet. Die unterschiedlichen Lebenssituationen der Eltern werden individuell berücksichtigt und gemeinsam wird nach Wegen gesucht – auf Augenhöhe! Gerade auch im sozial-integrativen Kontext der interkulturellen Waldorfschulen ist das erlebbar.

Das bedingt auch, dass nicht Normen maßgeblich sind für die Anerkennung des anderen, sondern der einzelne Mensch, wie er ist. Und dass man aufgerufen ist, sich seiner Vorurteile bewusst zu werden, um niemanden, auch nicht unbewusst, auszugrenzen. Das ist etwas, was die heutigen Studierenden permanent einfordern und das zurecht!

EK | Ein besonderes Anliegen ist Ihnen die Diversitätssensibilität.

CD | Dass dieses Thema mit immer stärkerer Vehemenz auftaucht, zeigt, dass es uns nicht gelungen ist, was wir doch immer nur gepredigt haben: die Anerkenntnis des anderen Menschen. Wollen wir eine moderne Pädagogik, sollten wir uns mit diesem Sachverhalt auseinandersetzen. Auch ein Lehrplan darf dies in seiner Entstehung nicht unberücksichtigt lassen, denn gerade in den ersten Jahrsiebten eines Menschen werden die Vorurteile geprägt. Wir kennen sie alle, die Urteile, die aus den Tiefen auftauchen, ohne dass wir wissen, woher sie kommen – das heißt, dass wir urteilen, bevor wir wahrnehmen.

Zu Ende gedacht ist die sogenannte Diversitätssensibilität nichts anderes als die volle Anerkenntnis des menschlichen Seins und die Auflösung festgelegter Normierungen durch kulturelle Prägungen, religiöse Gebote oder Traditionen, geschlechtsspezifischer Konzepte und die völlige Beseitigung von einem Kategorisieren in Rassen.

Die seit vielen Jahren immer deutlicher werdende Empfindsamkeit in Bezug auf den Umgang mit Diversität ist ein Symptom für das individuelle Ergreifen des eigenen Menschseins – man könnte auch sagen: Endlich werden wir mit der Nase darauf gestoßen, wir Anthroposophen!

Wenn ich zu Menschen spreche und hinterher kommen Einzelne zu mir und sagen, sie fühlten sich durch bestimmten Äußerungen »angetriggert« oder gar verletzt, weil ich nicht sensibel genug formuliert habe, dann ist dies etwas, was ich selbstverständlich nicht verursachen will. Ich kann dies nur vermeiden, wenn ich die Haltung entwickle, dass die Empfindsamkeit meines Gegenübers immer berechtigt ist und dass ich ebenso eine Empfindsamkeit ausbilde – trotzdem oder gerade weil ich möglicherweise anders sozialisiert bin und bestimmte »Muster« in mir trage. Das kann anstrengend sein, weil ich meine Haltung hinterfragen muss, bereit sein muss, mich auf die Empfindsamkeit meiner Mitmenschen einzulassen.

EK | Ein Schulkind fühlt sich in den ersten Schuljahren noch eins mit der Welt. Ab welchem Alter halten Sie es für sinnvoll, Unterschiede zu thematisieren? Verstärkt dies nicht noch die Entfremdung?

CD | Wenn wir uns auf den oben beschriebenen Weg machen und außerdem würdig sind, nachgeahmt zu werden, dann spricht aus der lieb gewonnenen Autorität diese Haltung in allem, was im Klassenzimmer geschieht – da müssen keine Unterschiede formuliert werden, denn die Welt und Menschheit ist eins in aller Unterschiedlichkeit. In der Frage steckt so gesehen ein altes Bild von Normen.Das Schulkind braucht um sich Erwachsene, die diese Haltung ausgebildet haben und Gesichtspunkte haben, die altersgemäß die Entwicklung fördern.

EK | Woran merken Sie, dass Kinder wirklich unter Diskriminierungen leiden, die sie nicht nur Erwachsenen nachplappern? Wie kann man pädagogisch sinnvoll darauf reagieren?

CD | Wenn ich auf unsere waldorfeigenen Arbeitsmaterialien hinschaue, dann haben wir in einigen Bereichen mächtigen Nachholbedarf, im Erstellen von diversitätssensiblen Unterrichtsmaterialien – auch hier kommt die Haltungsfrage der jeweiligen Autorinnen und Autoren zum Vorschein. Auch halte ich beispielsweise die Art und Weise, wie wir den Abiturfetisch zelebrieren, in vielen unserer Schulen für diskriminierend, denn alles wird untergeordnet dem Diktat, den Abiturdurchschnitt zu halten oder zu heben und andere Wege werden nicht in gleicher Weise anerkannt, zumindest nach außen nicht gewürdigt. Hier findet sich unser gesellschaftliches Muster wieder, dass besagt, dass ein Hochschulzugang – also die Möglichkeit für eine akademische Laufbahn – besser ist als alles andere. Und nachweisbar sind Menschen mit anderem Bildungsgang in unserer Gesellschaft Diskriminierungen häufiger ausgesetzt als Menschen mit akademischem Abschluss.

EK | Wie arbeiten Sie mit den Studierenden der Waldorfpädagogik an diesen Fragen?

CD | Wir versuchen die Studierenden durch Inhalte zu berühren, das heißt, sie anzuregen zu permanenter Auseinandersetzung mit sich selbst und der Umwelt, aufzuwachen für die begeisternden Gesichtspunkte, die in Anerkennung des individuellen Menschseins jeden Unterricht bereichern können. Dazu bedarf es auch, vielleicht mehr als noch vor zehn Jahren, des Ermöglichens von direkten Erlebnissen in der Natur in unterschiedlichen sozialen Begegnungen und der Erweiterung und Verfeinerung der Sinneswahrnehmungsmöglichkeiten. Denn tatsächlich nehmen wir wahr, dass zwar eine gewisse oberflächliche Kenntnis von vielen Dingen vorhanden ist, aber eine erlebnisgesättigte Allgemeinbildung, die durch das Beziehen eigener Erfahrungen aufeinander anwächst, ist seltener geworden. Es gilt in dieser Zeit, wesenhaftes Erleben zu intensivieren. Um die Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen wird auf allen Ebenen künstlerisch gearbeitet, denn natürlich führt nichts so stark in eine innere Bewegung wie die künstlerische Arbeit. Durch diese Art der Ausbildung kommt es immer wieder zur Beleuchtung der jeweils eigenen Haltungen und der unbewussten Vorurteile, die dann im gemeinsamen Gespräch an dem abgeprüft werden können, was von einer zukünftigen Lehrkraft im Klassenzimmer verlangt werden kann.

EK | Wenn man inhaltliche Änderungen vornimmt, muss man wissen, welche ursprünglichen, menschenkundlich begründeten Intentionen, die sozusagen überzeitlich und nur der gesunden kindlichen Entwicklung verpflichtet sind, verfolgte. Droht nicht die Gefahr der Anpassung an gesellschaftliche Mainstreams?

CD | Das Gegenteil ist der Fall. Wie oben beschrieben geht es um die Haltung der Lehrerinnen und Lehrer, die den Stoff, den sie wählen, so entdecken müssen, dass sie begeistert sind und durch ihre Tätigkeit in der Lage sind, diesen begeisternden Inhalt so zu transformieren, dass er für die Schülerinnen und Schüler in diesem Moment für ihre Entwicklung förderlich ist.

Das heißt, die Frage ist nicht, ob ich einem x-beliebigen Mainstreammoment folge, sondern ob ich eine solche Haltung entwickle, dass ich gar nicht mehr über Diversität sprechen muss, in Anerkenntnis aller Unterschiede, die es gibt. Der sozial-integrative Ansatz der inter­kulturellen Pädagogik und der inklusive Ansatz sind im Grunde Teilbereiche der gesamten Diversitätsthematik, die wir nach und nach mühsam als Bewegung aufnehmen. Schlimm genug, dass wir immer noch darüber sprechen müssen. Gendersternchendiskussionen und Quotenkonzepte können anstrengend sein, sie sind aber Symptome für das, was innerhalb der Gesellschaft geschieht. Es sind die Kanten, an denen man sich stößt, weil sie das Gewohnte infrage stellen und gleichzeitig sind sie notwendig, weil das Gewohnte in Frage gestellt werden muss, in einer Pädagogik für das 21. Jahrhundert, für eine aufwachende Gesellschaft.

Und bitte, die übergeordneten Gesichtspunkte, die Rudolf Steiner in der Menschenkunde entwickelt hat, die werden weiterhin Bestand haben.

Inhalte und Methoden, die er beispielhaft in der damaligen Zeit gab, die müssen und dürfen befragt werden. Und das ist etwas, was wir auch mit unseren Studierenden entwickeln: »Habt den Mut, Gegebenes zu hinterfragen und Traditionen auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen. Gerade auch dann, wenn ihr in der Schule angekommen seid.« Oft erleben wir in der Ausbildung, dass mutige und kreative Menschen sich an den Schulen nicht erproben dürfen und kaum entfalten können, weil sie durch Waldorf­traditionen zurückgehalten, um nicht zu sagen, unterdrückt werden.

Abschließend sei gesagt, dass ein »Lehrplan« für die Waldorfschulen nur dann wirklich ergriffen werden kann, wenn er offen formuliert ist und sensibel umgeht mit den Unterschieden. Zu viele alte Muster bedienen wir, zu viele Klischees prägen wir, durch die Bilder, die wir weitergeben – auch darauf muss eine Lehrplanorientierung aufmerksam machen. Wir müssen auf den freien, verantwortlichen Menschen zählen und diesem unsere Pädagogik anvertrauen. Die Grenze zwischen Freiheit und Beliebigkeit in der Pädagogik kann nur von Menschen gezogen werden, die oben geschilderte Haltungen ausbilden.

Die Fragen stellten Christian Boettger und Mathias Maurer