Von Bach zu Bachs Söhnen – im Strom der Generationen

René Walter

In Bachs kinderreicher Familie wurde unentwegt musiziert, unterrichtet und geprobt. Seine zweite Frau, die begabten Söhne, von denen mancher an europäischen Höfen als Kapellmeister reüssierte, bildeten Chor und Orchester zugleich. 1730 formulierte Johann Sebastian in einem Brief an seinen Schulfreund Georg Erdmann: »Mein ältester Sohn ist ein Studiosus Juris, die andern beyden frequentiren noch, einer primam der andere 2dam Classem, u die älteste Tochter ist auch noch unverheurathet. Die Kinder anderer Ehe sind noch klein, u der Knabe als erstgebohrener 6 Jahre alt. Insgesamt aber sind sie gebohrne Musici, u kann versichern, daß schon ein Concert Vocaliter u Instrumentaliter mit meiner Familie fomiren kan, zumahln da meine itzige Frau gar einen sauberen Soprano singet, auch meine älteste Tochter nicht schlimm einschläget.« Wer etwa das Oboenkonzert B-Dur (Wq164) von Carl Philipp Emanuel hört, kann deutlich den Eindruck gewinnen, dass ein Bach aus der Musik spricht; der Duktus ist zugleich empfindsamer, verspielter und individueller als der des Vaters. Etwas Neues ist nicht zu überhören, das Kontinuum aber auch nicht. Im Rückblick erkennt die Musikgeschichte die Geburt einer neuen Generation – hier verbunden mit dem Phänomen der familiären Prägung.

Der ideelle Strom der Waldorfschulbewegung ist nun in der vierten Generation angekommen. Im Zu­sammenhang mit dem großen weltweiten Fest zum 100. Geburtstag sind wertvolle historische Darstellungen in drei Bänden entstanden, die bis in das Wirken einzelner Persönlichkeiten hinein beschreiben, wie jede Generation vor neuen Aufgaben steht und ein eigenes Antlitz entfaltet. Das Kontinuum liegt im Ringen um die Allgemeine Menschenkunde im weitesten und im konkreten Sinne der Gestaltung von Unterricht. Wirft man den Blick in die »silbergraue« Landschaft der Schulbewegung wird deutlich, dass viele heute in tragender Weise tätige Persönlichkeiten ganz in der dritten Generation initiiert worden sind und nun mit in der Verantwortung stehen, Übergänge zu gestalten und einer neuen Generation die Möglichkeiten zur Entfaltung zu schaffen. – Wie kann das gelingen? Vor allen strukturellen Fragen eines gestalteten Übergangs sollte ein geistig anregendes Milieu stehen, in dem anthroposophische Pädagogik kollegial besprechbar ist. Dieses Milieu wird seine Konzentration unter anderem in einer stets neu belebten Pädagogischen Konferenz haben können; dann, wenn konkrete Erfahrungen mit den Kindern und Jugendlichen mit dem menschenkundlichen Blick zusammenklingen; dann, wenn statt gedanklicher Setzungen oder Belehrungen gemeinsam an individualisiertem Verständnis der Anregungen aus den »Grünen Bänden« gearbeitet wird, wenn Lehrplan und Methodik in einem geistig freien Klima forschend und fragend bewegt werden, wenn nicht Formen und Inhalte tradiert werden aus Sorge vor Beliebigkeit, Anpassung und Verwässerung. Nur in einem solchen Milieu kann die Entfaltung und Verwandlung der Lehrerpersönlichkeit angeregt werden, der erfahrenen und der jüngeren gleichermaßen.

Übergänge bewusst gestalten

Neben dieser zentralen Frage einer entzündenden inhaltlichen Zusammenarbeit gibt es sicher auch handfeste Möglichkeiten, einer nachwachsenden Generation Verantwortung zuzumuten. Hierzu sollte man die besonderen individuellen Fähigkeiten oder Entwicklungspotenziale im Kollegium erkennen und Aufgaben bewusst zusprechen. Schüsselpositionen in der Selbstverwaltung wie Konferenzleitungen, Geschäftsführung, Personalentwicklung, Stundenplan, Vorstand, Mitarbeit in den
regionalen Landesarbeitsgemeinschaften und Bundes­gremien sollten auch dem Geschick jüngerer Kollegen anvertraut werden. Tandemlösungen, Paten­schaften oder Mentorierung in den Auf­gabenbereichen könnten eine gesunde Fehler- und Gelingenskultur schaffen. Wenn die »alten Hasen« den Laden immer am Laufen halten, mag das für eine gewisse Phase in der Entwicklung einer Schule gut sein. Es entbindet jedoch nicht von der Verantwortung, die schlummernden Fähigkeiten und ungehobenen Potenziale einer neuen Generation zu erkennen und sie so früh wie möglich einzubeziehen. Echte Aufgaben und Herausforderungen sind gerade gut genug, um »Wachstum« zu ermöglichen. Im Regelfall entsenden Kollegien zwei Persönlichkeiten zu den Delegiertentagungen und Mitgliederversammlungen des Bundes, die mit Kompetenz und Erfahrung ihre Schule vertreten. Wie wäre es, wenn in diese Delegation bewusst auch jüngere Kollegen eingeführt würden, um den »Blick über den Gartenzaun« der eigenen Einrichtung zu ermöglichen? Im Rahmen der Selbstverwaltung sollte erfahrbar werden, dass Initiative und Gestaltungswillen gefragt sind und gefördert werden, dass es Freude machen kann, wenn aus dem pädagogischen Impuls stammende Ideen innovative Formen in der Wirklichkeit finden können. Wenn Selbstverwaltung nicht als schwere Bürde verstanden wird, die nur von Wissenden mit besorgtem Blick getragen werden kann, sondern wenn eine Unternehmenskultur der Freude am Gestalten und Ermöglichen Einzug hält. Die Gestaltungsfreiheit, die wir als Schule in freier Trägerschaft und als Freie Waldorfschule im Besonderen in weiten Teilen haben, ist womöglich unser stärkstes Pfund auch im Hinblick auf eine künftige Lehrergeneration, die den Weg zu uns finden möchte. Da ist eine originäre pädagogische Idee mit vielen offenen methodisch-didaktischen Entfaltungsmöglichkeiten einerseits und Raum für Initiative, um Ideale zu verwirklichen andererseits. Persönlichkeiten, die pädagogische Motive haben und gestalten, nicht tradieren wollen, brauchen Freiräume und wollen bestimmt nicht am Ideal des Gewesenen korrigiert werden. Formen der Zusammenarbeit werden sich wandeln und im Zusammenklang mit den Lebensentwürfen der neuen Generation eine beweglichere Konstitution annehmen.

Mit Blick auf die Generationenfrage der Bach-Familie erkennt man als Kontinuum das geistige Band der Musik – das Band, das zwischen den Lehrergenerationen webt, ist ebenfalls nichtstofflicher Natur. Es besteht nicht aus den gewordenen Formen, den Bauten und Wachs­blöckchen, vielmehr ist es die anthroposophische Idee vom werdenden Menschen im Allgemeinen und im Konkreten. Der angeregte Wandlungsweg der Lehrerpersönlichkeit ist ein Weg, der hilft, innerlich jung zu bleiben, statt zu versauern und geistig zu sklerotisieren. In diesem Sinne mögen die erfahrenen Kollegen auch »Jungbrunnen« der Schulgemeinschaft sein.

Zum Autor: René Walter ist Lehrer für Musik, Religion und Deutsch an der Freien Waldorfschule Greifswald, Mitglied der Bundeskonferenz für die LAG in Mecklenburg-Vorpommern.

Literatur: N. Göbel: Die Waldorfschule und ihre Menschen. Weltweit. Stuttgart 2019