Waldorf erklärt

Von der Weisheit unseres Körpers

Peter Stickel
Foto: © Charlotte Fischer

In seinem ersten Kurs für das erste Kollegium der Waldorfschule wurde Rudolf Steiner nicht müde zu betonen, dass Lehrer:innen und Erzieher:innen nicht in erster Linie auf die Kinder einwirken durch das, was sie »tun«, sondern durch das, was sie »sind«. In diesem Zusammenhang erscheint auch der Begriff der Selbsterziehung. Beachtenswert ist dabei der Hinweis, dass Sie an den Gefühlen ansetzen soll. »Wollen wir daher Selbsterzieher unseres Willens sein, dann haben wir, indem wir dies mittelbar erreichen wollen, uns an unsere Gefühle und Empfindungen zu wenden und in weiser Selbsterkenntnis zu forschen, wie wir an unseren Gefühlen und Empfindungen arbeiten können« (Steiner, GA 61, S. 438).

Steiner geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn er die Lehrkraft als die entscheidende Umgebung des Kindes bezeichnet. »Jede Erziehung ist Selbsterziehung, und wir sind eigentlich als Lehrer und Erzieher nur die Umgebung des sich selbst erziehenden Kindes. Wir müssen die günstigste Umgebung abgeben, damit an uns das Kind sich so erzieht, wie es sich durch sein inneres Schicksal erziehen muss« (Steiner, GA 306, S. 131).

Selbsterziehung erscheint hier nicht nur als Forderung an die Lehrer:innen, sondern unterstellt, dass das sich entwickelnde Kind in einer günstigen Umgebung die Reifeschritte vollzieht, die es als Potenzial immer schon mit dem Willen zur Entfaltung in sich trägt. – Was die gegenständliche »Umgebung« betrifft, bieten Waldorfschulen sehr viele Gestaltungsräume und Erprobungsfelder an: Architektur und Farbe der Gebäude und Klassenräume, Jahreszeitentische sind »Einladungen« an die Schüler:innen. Die wichtigste Umgebung bleibt jedoch die Lehrkraft. Wie aber macht sich die Lehrkraft zur »günstigsten Umgebung«? Wie muss sie ihre Entwicklung gestalten? Wie wird sie zu einer liebe- und humorvollen, einfühlsamen und vertrauenerweckenden Person? Die Hinweise des Begründers der Waldorfpädagogik umfassen überwiegend Übungen meditativer Natur. Der Anspruch, dadurch zum Ziel zu gelangen, ist hoch und führt bei vielen Lehrer:innen zur Überforderung. Diese aber gründet in Vorstellungen und Gedanken, die ein Bild von einem Ideal erzeugen und vom Körper verlangen, dass er im Fühlen und Handeln dem Bild folgt. Es ist der in unserem Kulturkreis dominante Weg vom Kopf in den Körper, in der Fachliteratur auch als »Top-Down-Prozess« bezeichnet. Ich verstehe Steiner jedoch so, dass er den Blick auf Gefühl und Willen lenken will. Erst wenn die beiden Bezirke in Balance sind, haben wir Zugang zum lebendigen Denken – und damit die Möglichkeit, mit dem umgekehrten Prozess zu beginnen (»Bottom-Up«).

Die von Stephen Porges entwickelte »Polyvagaltheorie« – der Begriff leitet sich ab vom Vagusnerv, der als der wichtigste und alle entscheidenden physischen Organe mitregulierende Nerv des Autonomen Nervensystems (ANS) gilt – ermöglicht einen solchen komplementären Zugang zur Selbsterziehung. Stephan Porges hat nach intensiven Forschungen sowohl den Aufbau als auch die Funktion des ANS mit seinem komplexen Zusammenspiel von Sympathikus und Parasympathikus neu beschrieben und damit menschliches Erleben und Verhalten einem neuen und erweiterten Verständnis zugeführt.

Das ANS steuert und reguliert alle unwillkürlichen Vorgänge in unserem Körper, wie Herzschlag, Atmung, Verdauung usw. Dem Vagusnerv kommt deshalb besondere Bedeutung zu, weil er über sensorische und motorische Bahnen verfügt und, vom Stammhirn ausgehend, alle Organe erreicht. Er nimmt die Zustände der Organe wahr und reguliert sie auch aktiv. Er ist auch beteiligt in den Bereichen der Stimme, der Mimik und des Hörens, sowohl wahrnehmend als auch deren Funktionen beeinflussend. Er wird daher auch der »Umherschweifende« genannt. Unser ANS bildet das Zentrum, den Anker unserer Befindlichkeit und emotionalen Gestimmtheit. Es hat sich im Laufe der Evolution von einfachen zu immer komplexeren Strukturen und Systemen entwickelt.

Das älteste dieser neuronalen Systeme ist aktiv, wenn sich Menschen in ausweglos lebensbedrohlicher Gefahr befinden. Es führt zur Immobilisierung, die Muskeln werden hypoton, Herzschlag und Atmung werden gebremst, der Mensch kann kollabieren. Die autonome Reaktion dient dem Überleben, sie hat im Tierreich ihre Entsprechung in der Schreckstarre oder dem Totstell-Reflex, einer Überlebensstrategie zur Irreleitung eines Fressfeindes. Während das Tier, wenn es den Vorgang überlebt, aus der Schreckstarre folgenlos wieder in den Normalzustand wechselt, kann sich beim Menschen ein Trauma entwickeln, indem er latent in der Reaktion stecken bleibt.

Das zweitälteste der Systeme ist aktiv, wenn sich Menschen in einer nicht ausweglosen Gefahr. Anders als bei den soeben beschriebenen Reaktionen, wird der Körper in einen Alarmzustand von hoher Aktivierung versetzt.

Herzschlag und Atmung werden beschleunigt, Muskeln werden hyperton, die Sinneswahrnehmung wird selektiv.

Verdauungsvorgänge werden augenblicklich eingestellt. Das Individuum bereitet sich auf eine Reaktion vor. Aus dem Tierreich ist das Phänomen als »Kampf- oder Flucht-Verhalten« bekannt. Auch dieses System dient zunächst dem Schutz des Lebens. Auch hier kann ein Mensch, anders als das Tier, in der Reaktion steckenbleiben.

Das evolutionär jüngste der neuronalen Systeme nennt Porges das »System für soziale Verbundenheit«. Es findet sich nur bei Primaten und Menschen. Beim Menschen sind die für diesen Bereich zuständigen Neuronen des Vagus bei Geburt noch nicht ausgereift. Daher spielt die frühe Bindung beim Kind die entscheidende Rolle und prägt, in welcher Weise das Gefühl des sicheren Seins in der Welt später zur Blüte kommt. Die Aktivierung dieser neuronalen Schaltkreise bildet die Voraussetzung, dass ein Mensch sich »menschlich« verhält. Erst mit der neuronalen Reife hat er Zugriff auf seine Anlagen und Ressourcen, vermag klar und planvoll zu denken, verhält sich einfühlsam, fürsorglich und liebevoll und ist zu spiritueller Reifung motiviert.

Die drei Systeme bilden eine Art persönliches Observationssystem, das ständig im Einsatz ist und Signale von außen und innen wahrnimmt und dann entscheidet, ob eine Situation sicher, gefährlich oder lebensbedrohlich ist. Danach kommt es zur Aktivierung der entsprechenden neuronalen Schaltkreise. Neben angeborenen Automatismen (bspw. Erschrecken nach unerwartetem lautem Geräusch) spielen dabei aber auch die lebensgeschichtlichen Prägungen eine entscheidende Rolle. Ob eine Gefahr objektiv vorliegt, ist dabei unerheblich. Ein Mensch, der bspw. bei leisester Kritik empört und aggressiv reagiert, erlebt sie als Bedrohung. Möglicherweise wurde er in seiner Kindheit häufig gemaßregelt, wenn er etwas falsch gemacht hatte. Solche Prägungen können dann lebenslang als ein Grundmuster in die körperliche Konstitution eingeschrieben bleiben, wenn sie nicht bemerkt und bearbeitet werden, und verhindern so Entwicklungsmöglichkeiten.

Das Streben der menschlichen Neurobiologie nach dem Zustand sozialer Verbundenheit, Porges nennt das den »biologischen Imperativ«, ist ein zutiefst optimistischer Verweis auf die Zielrichtung der Evolution als Anwesenheit des Geistigen.

Für Lehrer:innen und Erzieher:innen lassen sich daraus wichtige Erkenntnisse gewinnen: Neben allen methodischen Kenntnissen ist es für die gesunde Entwicklung insbesondere des jüngeren Kindes von entscheidender Bedeutung, dass die erwachsene Person selbst in einem sicheren, verbundenen Verhältnis zu sich selbst und zur Welt steht. Ein Zustand, der aber nicht per Kopf-Entscheidung hergestellt werden kann, sondern an dem man mit liebevollem Interesse an sich selbst und mit anderen arbeiten kann. Es ist nicht so, dass Lehrer:innen ihre emotionale Gestimmtheit vor Betreten des Klassenzimmers ablegen könnten. Wer meint, das tun zu können, verkennt die Weisheit unseres Körpers und wird vor Kindern an deren Sensibilität für Echtheit scheitern. Für die Selbsterziehung mag das heute bedeuten, dass wir intensiver mit unserer Körperlichkeit in Einklang kommen müssen, um die gesunde und Sicherheit vermittelnde Verbundenheit mit der Welt zu erlangen. Die Schwierigkeit wird sein, dies nicht als neuen Anspruch zu verstehen, den unser Vorstellungsleben vorgibt. Es ist der Geist in unserer physischen Organisation, der so »agiert«, dass er uns fortwährend in den Zustand der Verbundenheit mit Innen und Außen bringen will.

Ein Brückenschlag zum Konzept der Salutogenese sei an dieser Stelle erlaubt: Aaron Antonovskys salutogenetischer Ansatz beschreibt aus medizinsoziologischer Perspektive die Bedingungen für gesunde Entwicklung: Das Gefühl der Kohärenz entsteht, wenn die Umgebungsbedingungen vom Individuum als verstehbar, handhabbar und sinnvoll wahrgenommen werden. In dem Maße, wie sich diese drei Voraussetzungen in Balance befinden, entwickeln und stärken sich Gesundheit und Resilienz.

Stephen Porges Polyvagaltheorie verdient die gleiche Aufmerksamkeit. Er beschreibt die Gelingensfaktoren für Gesundheit aus neurobiologischer Sicht. Erst wenn wir uns in einem neuronalen Zustand der sozialen Verbundenheit befinden, haben wir Zugang zu den Potenzialen, die uns als Menschen auszeichnen. Erst in diesem Zustand werden Lehrer:innen und Erzieher:innen zu der »günstigsten Umgebung«. Dann wirkt ihr Sein co-regulierend auf die Zustände der Kinder und trägt dazu bei, die Hindernisse ihrer Selbsterziehung zu beseitigen.

Dass dies mit dem ursprünglichsten Wollen menschlichen Werdens übereinstimmt, formuliert der Rezipient von Stephen Porges, George Thompson, in poetischer Metaphorik: »Die Seele weiß, dass das Leben im Haus des Körpers weniger stürmisch sein könnte, Sie sehnt sich danach, dass wir innere Ruhe finden. Sie möchte, dass wir unser Bestes ans Licht bringen, dass wir Demut und Güte zeigen, Offenheit und Integrität, Gelassenheit und Geduld. Sie betrauert die Entstellung der Liebe, wenn sie grausame Worten und Taten hervorbringt, die unsere ursprüngliche Sanftheit und Verletzlichkeit verraten. Die Seele ist der Engel in uns, der darauf wartet, den Engel in einem anderen Menschen kennenzulernen, sodass die beiden Engel sich wie ein Quecksilbertropfen wieder miteinander verbinden können.«

Zum Autor: Peter Stickel ist Diplompädagoge, Theaterpädagoge, Mediencoach und Sonderschullehrer sowie Sprecher der AG Heilpädagogischer Schulen auf anthroposophischer Grundlage in Baden-Württemberg und Saarland; Mitglied im Verwaltungsrat von Anthropoi.

Literatur:

D. Dana: Die Polyvagaltheorie in der Therapie. Lichtenau 2018 | S. Porges: Die Polyvagaltheorie und die Suche nach Sicherheit. Lichtenau 2017 (Zitat oben S. 167). | S. Porges: Klinische Anwendungen der Polyvagaltherapie. Lichtenau 2019 | R. Steiner: Menschengeschichte im Lichte der Geistesforschung, GA 61. Dornach 1962 | Ders.: Erziehungs- und Unterrichtsmethoden auf anthroposophischer Grundlage, GA 304, Dornach 1989 | Ders.: Allgemeine Menschenkunde, Methodisch-Didaktisches, Seminar, Studienausgabe, Basel 2019

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