Von eingebildeten Kranken und Ärzten

Siegmund Baldszun

Im 10. Schuljahr ist in vielen Fächern eine Art sachlicher Blick auf das Werden der Dinge und Verhältnisse, wie zum Beispiel in der Frühgeschichte der alten Kulturen oder in der Entwicklung der deutschen Sprache angesagt. Die mehr analysierende Erarbeitung von Gesetzmäßigkeiten kann dem Schüler in diesem Alter helfen, sein Denken unabhängig von Sympathien und Antipathien zu klären. Hier bietet das Werden der französischen Sprache ein reiches Studienfeld: Da sind die vielfältigen historischen Wurzeln im Keltischen, Griechischen, Arabischen, Lateinischen, da ist später der Doppelspross von »langue d’oc« im Süden und »langue d’oeil« im Norden und dann der grandiose Stamm des »klassischen« Französisch, »la langue de Molière«, dann die neu belebten Zweige der Regionalsprachen und in den ständig bewegten Blättern der Baumkrone schließlich Argot, Verlan, die Jugendsprache, der Rap und Slam der zeitgenössischen Poeten und Wortkünstler.

In der Vorbereitung kann dem Lehrer in dieser Entwicklung eine Erstarrung, ein »Sterben« der französischen Sprache im 17./18. Jahrhundert und ihre Dynamisierung, ihre »Auferstehung« durch die existenziellen Vorstöße der großen Dichter im 19./20. Jahrhundert deutlich werden. Ein anderer Weg, im 10. Schuljahr in diese Sprache nicht vom reflektierenden Denken her, sondern stark mit dem Willen einzutauchen, ist das konkrete Erarbeiten eines Theaterstückes. Der gedruckte, überlieferte, erstorbene, alte Text muss aus eigener Kraft auf der Bühne belebt werden.

In unserem Fall traf das Thema des »Lehrplans« auf eine deutlich artikulierte Spielfreude der Klasse, und so entstand das Projekt »Molière: Le Malade imaginaire«. Alle 36 Schüler­innen und Schüler haben die Herausforderung einer Rolle angenommen, die Szenen wurden aufgeteilt, so dass es mehre Argans und mehrere Toinettes gab. Die Texte wurden geduldig geübt, die Rollengestaltung besprochen, ein Bühnenbild wurde erstellt, Kostüme herausgesucht, Musik geprobt und die Inszenierung nahm in vielen Fachstunden und auch zusätzlich an einigen Nachmittagen langsam Gestalt an. Da die Aufführungen erst am Anfang 11. Klasse möglich waren, wurde eine Audio-Datei mit dem gekürzten Text aufgenommen, die zum Üben der Aussprache über Dropbox zur Verfügung stand. Für manche Schüler war auch ein Blick in französische Inszenierungen auf YouTube eine Anregung.

Das Thema des Stückes, die Kritik an der Ärzteschaft, an Dünkel und Einbildung, ist auch 2013 erstaunlich aktuell. Natürlich lag aber der Hauptschwerpunkt unserer Arbeit zunächst auf dem Erlernen und flüssigen Sprechen des Textes. Nach drei erfolgreichen Aufführungen – unter anderem auch vor 80 Französischlehrern auf der Waldorf-Fortbildungswoche »Semaine Française« in Lothringen – war die Klasse an diesen Grenzerfahrungen und echten Bewährungsproben innerlich gereift, gestärkt und glücklich. Allerdings, absichtsvoll planbar ist ein solches Projekt kaum. Es geht nur, wenn der »innere Moment« in Schülern, Lehrern, Schule und Zeitläuften zusammenklingt, wie bei der Zen-Kunst des Bogenschießens …

Zum Autor: Siegmund Baldszun ist Französischlehrer an der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe; Lehrtätigkeit an der Freien Hochschule Stuttgart und Mannheim sowie an Fortbildungstagungen und an der »Semaine Française«.