Von Sinnen

Mathias Maurer, Henning Kullak-Ublick

Liebe Leserin, lieber Leser,

Sie halten die erste Ausgabe der neuen Erziehungskunst in der Hand. Die Waldorfschulen stellen nicht nur in Deutschland, sondern mit über 1.000 Schulen und noch weit mehr Kindergärten weltweit die größte über-konfessionelle und nicht-staatliche pädagogische Bewegung dar. Sie fühlen sich allen pädagogischen Ideen und Initiativen freundschaftlich verbunden, die sich nicht politischen, ökonomischen oder ideologischen Zwängen beugen, sondern darum ringen, pädagogische Lebensräume zu schaffen, innerhalb derer sich die Kinder und Jugendlichen zu individuellen und sozial kompetenten Persönlichkeiten entwickeln können. Unsere Zeitschrift möchte diesen Bestrebungen eine Stimme geben und zu einem lebendigen Austausch über eine zeitgemäße Waldorfpädagogik beitragen. Wir bemühen uns darum, sie ständig zu verbessern und freuen uns daher über Ihr Lob oder Ihre Kritik.

Esther, eineinhalb Jahre, weiß, was Salz ist. Liebend gerne pusselt sie die Salzkörnchen von der Butterbrezel, die in den Mund wandern: »Dalz!«. Das Gleiche bei Zucker: »Dalz!« – Esther weiß also doch nicht, was Salz ist. Ein, zwei Monate später im Sandkasten: »Dalz!« Was hatte sie begriffen: Alles Körnige ist »Dalz«. Jetzt die Korrektur: – »Nein, Esther, das ist Sand.« Ungläubiger Blick. Die Hand fährt in den Sand und dann in den Mund: »Dalz!« Sie beharrt also. »Esther, das ist Sand«. Ihre kleinen Zähnchen mahlen knirschend die Sandkörner. Schmecken tut es allem Anschein nach anders als Salz, lutschen kann man ihn auch nicht, ein Sandspeichelfaden läuft ihr aus dem Mund. Doch sie will ihren liebgewonnenen alten Begriff nicht so schnell aufgeben, so geht es ein paar Mal hin und her. Ihrem Gesicht ist anzusehen, wie sie innerlich regelrecht ringt: eine alte Welt bricht zusammen.  Schließlich: Erneuter Griff in den Sand, jetzt wird nur noch die sandige Handfläche abgeleckt, deutlich vorsich­tiger. Und nun kommt strahlend das Wort: »Dand!« – Das Beispiel zeigt: Von klein auf bilden wir uns ständig Begriffe von der Welt und allen Dingen um uns herum. Aber ohne direktes Sinneserlebnis kommen wir zu keinem (richtigen) Begriff. Und das ändert sich auch im Erwachsenenalter nicht. Begriffe bedürfen unserer ständigen sinnlichen Überprüfung, auch wenn es sich um anspruchs­vollere »Kost« handelt als Sand. ‹›

Mit herzlichen Grüßen von

Mathias Maurer (Redaktion),  Henning Kullak-Ublick (Herausgeber)