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Wie ich als Seiteneinsteiger die Waldorfschule erlebe

Linus Groschke
Foto: @ photocase_4336592

«Wir sind die Schüler von heute, die in den Schulen von gestern mit Lehrern von vorgestern und Methoden aus dem Mittelalter auf die Probleme von morgen vorbereitet werden.» Schulen tragen in unserer Gesellschaft eine große Verantwortung und oft werden sie dafür kritisiert, dass sie ihrer anspruchsvollen Aufgabe nicht gerecht werden was sich in solchen Sprüchen wie dem von heute, gestern und morgen wiederspiegelt. In der Diskussion über die Defizite unseres Schulsystems spielen auch die Waldorfschulen eine nicht unerhebliche Rolle. Viele Eltern fragen sich: «Wäre eine Waldorfschule nicht etwas für mein Kind?» Ich möchte mit diesem Artikel genau diesen Menschen helfen, denn ich kenne beides – die reguläre staatliche Schule und die Waldorfschule. Allerdings: Im Umgang mit Waldorfschulen muss man wissen, dass Waldorfschule nicht gleich Waldorfschule ist. Es gibt in Deutschland zwar den Bund der Freien Waldorfschulen, dem alle Waldorfschulen angehören, doch liegt die Art und Weise der Schulgestaltung bei den jeweiligen Schulen. Waldorfschulen müssen einzeln betrachtet werden und können auch nur bedingt miteinander verglichen werden.

Meine Schullaufbahn begann im Jahr 2009 – als ich mit Schultüte und Schulranzen zum ersten Mal das Gelände der Grundschule Mühlried-Schrobenhausen betrat. Damals ein rechteckiger Beton-Zweckbau aus den 1970er-Jahren, mit Teppichboden und Leuchtstoffröhrenbeleuchtung, mit dem ich nachträglich Gefängnis assoziiere. Die ersten Monate meiner Schullaufbahn waren von wahnsinniger Schulangst geprägt. Meine Eltern mussten mich anfangs jeden Tag zur Schule bringen, obwohl sie nur wenige Gehminuten von unserem Zuhause entfernt war. Dort angekommen, verfiel ich in bittere Angst und verbrachte oft Stunden weinend auf den ersten Treppenstufen in der Schulaula. Verständnisvolle und fürsorgliche Lehrer:innen gab es kaum. In den ersten Wochen meiner Schulzeit fehlte ich regelmäßig. Das war bestimmt auch der Tatsache geschuldete, dass ich als eines der letzten Kinder aufgrund der kurz darauf überarbeiteten Kann-Kind-Regel/Muss-Kind-Regel noch mit fünf Jahren eingeschult wurde.

Auch im Umgang mit Fehlern, fehlendem Wissen oder fehlenden Hausaufgaben waren meine Grundschullehrer:innen nicht gerade gnädig. Konsequenzen müssen selbstverständlich sein, aber sollten sie dazu führen, dass ein Kind Angst vor dem Lehrer oder der Lehrerin hat? Sollten sie dazu führen, dass Kinder Angst haben, falsch zu liegen? Ich erinnere mich an unzählige Momente, in denen ich leere Felder in meinem Arbeitsheft mit Unsinn ausfüllte, nur um keinen Ärger wegen fehlender Hausaufgaben zu bekommen. Man wurde gewissermaßen zur Lüge erzogen.

Es kristallisiert sich hier ein zentraler Kritikpunkt an den staatlichen Schulen heraus: die Leistungen eines Schülers sind wichtiger als seine persönliche Entwicklung. Seine Leistungen sagen scheinbar mehr über ihn aus, als er jemals selbst über sich sagen könnte. Auch der strikte Lehrplan an staatlichen Schulen hemmt die Flexibilität im Umgang mit Unterrichtsthemen. Das Problem liegt darin, dass der Lehrplan oft weiter ist als die Schüler:innen selbst. Wie kann man ein nächstes Kapitel beginnen, etwas Neues thematisieren, wenn das vorherige noch nicht verstanden ist?

Ein weiterer Kritikpunkt richtet sich an die Struktur unseres Schulsystems. Das Konzept der Grundschulen und der weiterführenden Schulen hat ein Problem zur Folge: Die Klassengemeinschaft endet nach vier Jahren. Danach geht man, obwohl man sich mittlerweile so gut kennt, oft getrennte Wege. Auch ich erinnere mich daran, dass ich in der fünften Klasse die meisten meiner Mitschüler:innen nicht kannte und sehr traurig darüber war, enge Schulfreund:innen verloren zu haben. Auch hier wird die Leistungsorientierung des regulären Schulsystems deutlich. Wonach wurden wir getrennt? Nach unseren Leistungen! In Haupt-/Mittelschule, Realschule und Gymnasium. In so jungen Jahren werden wir mit den Konsequenzen der Nicht-Erbringung von Leistungen vertraut gemacht.

Mit dem Ende der Grundschulzeit endet auch die Zeit der Klassenlehrer:innen. Wobei man bei mir korrekterweise sagen muss, dass sie bereits früher endete. Nach der zweiten Klasse ging unsere bisherige Lehrerin in den Ruhestand und wir bekamen eine neue. Diese verließ unsere Klasse dann aufgrund von Versetzung mitten im laufenden Schuljahr. Sie hatte eine neue, besser bezahlte Stelle bekommen, die sie sich nicht entgehen lassen wollte. Uns teilte sie das zehn Minuten vor Beginn der Schulpause, zwischen Tür und Angel mit. Vertrauenslehrer:innen? Fehlanzeige.

Ich besuchte nach der Grundschule die Michael-Sommer-Mittelschule in Schrobenhausen und fand mich dort schnell zurecht. Schade war, dass ich kaum Freunde fand und mich mit den wenigsten meiner Mitschüler:innen wirklich gut verstand. Später machten mir auch immer wieder auftretende subtile Mobbing-Attacken zu schaffen. Sehr glücklich war ich allerdings darüber, in der sechsten Klasse an der Theater-AG teilnehmen zu dürfen. Doch leider war auch diese Freude nur von kurzer Dauer. In der siebten Klasse verließ die Theaterlehrerin, die auch andere Fächer unterrichtete, die Schule und ging in den Ruhestand. Obwohl sie der Schulleitung angeboten hatte, die Theater-AG ehrenamtlich weiterzuführen, war man aus bürokratischen Gründen dagegen und die Theater-AG wurde aufgelöst.

Wenige Monate später begann meine Familie mit dem Gedanken zu spielen, nach Augsburg umzuziehen. Mein Vater pendelte immer von Schrobenhausen nach Augsburg in die Arbeit, die Schul- und Kindergartensituation bei meinen zwei Brüdern war auch nicht wirklich rosig und auch sonst sprach vieles dafür. Nach Monaten der Abwägung stand die Entscheidung fest: wir ziehen um! Nun begann auch die Schulsuche für mich und meinen jüngeren Bruder.

Die Waldorfschule in Augsburg lernten meine Eltern zum ersten Mal beim Adventsbasar 2015 kennen. Sie waren so begeistert von der Schule, dass sie mich direkt zum Vorstellungsgespräch anmeldeten. Als ich das Schulgelände im April 2016 zum ersten Mal betrat, war ich von den Schulgebäuden überwältigt. Keine rechteckigen Zweckbauten, sondern krumme und schiefe Fantasie-Gebäude – sehr beeindruckend.

Meine erste Waldorf-Erfahrung war die Kanufahrt, die wenige Wochen nach meinem Klasseneintritt stattfand und mich erst einmal erdete. Eine Woche mit dem Kanu auf der Altmühl. Nass von oben, nass von unten. Das war eine Erfahrung fürs Leben! Genau das hatte ich gebraucht. Körperliche Betätigung, Abenteuer und Lagerfeuerromantik. Die nächste, besonders wichtige Erfahrung war das Klassenspiel in der achten Klasse. Endlich durfte ich wieder Theater spielen! Im Rahmen des Klassenspiels hatte ich auch die Möglichkeit, mein brennendes technisches Interesse als Beleuchter auszuleben. Auch der Leistungsdruck war mit einem Mal verschwunden. Ich erinnere mich an eine Situation, kurz nachdem ich in meiner neuen Klasse angekommen war. Ein Mitschüler fragte mich: «Wieso bist du jetzt hier an der Schule?» Ich erklärte es ihm und fügte an: «Wahrscheinlich war ich sowieso versetzungsgefährdet» – er schaute mich fragend an. «Was heißt denn das?», fragte er. Rückblickend ist es doch sehr schön zu sehen, dass sich ein Siebtklässler noch nie mit diesem Begriff herumschlagen musste.

Ein Konzept der Waldorfschule, das mir völlig neu war, aber gut gefiel, waren die Epochen. Die Idee sich über mehrere Wochen hinweg immer in den ersten Stunden des Tages mit demselben Fach zu beschäftigen ist genial. Man hat die Möglichkeit komplexe Themen zu durchdringen und muss mit seinen Fragen nicht warten, bis die nächste Fachunterrichtsstunde ansteht, sondern stellt sie einfach am nächsten Tag.

Mittlerweile betätige ich mich an meiner Schule als einer von drei sogenannten IT-Schülern. Ein Konzept, das während des Corona-Lockdowns geschaffen wurde: drei engagierte Schüler, die sich aktiv mit der Ausarbeitung von Software- und Hardwarelösungen für den Online-Unterricht beschäftigten und den Lehrer:innen mit viel Unterstützung beiseite standen. Diese Idee wurde weitergeführt und auch wir wuchsen an unseren Aufgaben. Oft wurden wir für unseren Einsatz gelobt und geehrt, einige behaupteten sogar, dass die unglaubliche Krisenresistenz unserer Schule vor allem auf diesem freiwilligen Engagement von Schüler:innen aufbaute. Ich habe es bei meinem Bruder, der eine staatliche Schule besucht, erlebt: über fünf Monate hinweg kein richtiger Unterricht, Lehrer:innen, die keine Zugänge für Microsoft-Teams hatten, die nie eine Schulung erhalten haben, die schlichtweg überfordert waren mit dieser neuartigen Unterrichtssituation. Solche Szenen hat es bei uns nicht gegeben, weil wir vorbereitet und engagiert waren.

Unsere Schule ist sehr offen für Schüler:innenbeteiligung, eine Eigenschaft, die sehr viele Vorteile mit sich bringt und den Schüler:innen ein enormes Selbstverwirklichungspotenzial bietet. Man muss nun ehrlicherweise zugeben, dass auch viele staatliche Schulen die Krise gemeistert haben. Auch an staatlichen Schulen gibt es Engagement.

Ich möchte nun ein Fazit meiner Schulzeit ziehen: Meine Schulzeit begann unglaublich holprig. Die ersten Jahre meines Schullebens waren geprägt von Überforderung und fehlendem Einfühlungsvermögen der Lehrer:innen. Gerade im Umgang mit Schüler:innen der Klassen eins bis vier sind die Waldorfschulen meiner Meinung nach einfühlsamer und insgesamt menschlicher. Es wird hier eben Wert auf die Entwicklung des Kindes gelegt. Mit dem Ende der Grundschulzeit und dem Wechsel auf eine weiterführende Schule waren meine Möglichkeiten schon vorbestimmt. In der Mittelschule hätte ich über den M-Zweig den mittleren Schulabschluss (Realschulabschluss) erwerben können. Das Abitur hätte ich nur über den Besuch einer Fachoberschule erreichen können.

Jetzt bin ich glücklicher Schüler eine Waldorfschule, der gern zur Schule geht und im Jahr 2023 mit Abitur die Schule verlassen wird – ein Abschluss, der mir Ende der vierten Klasse nicht zugetraut wurde und den ich ohne die Waldorfschule nie erreicht hätte. Zusammen mit den vielen Erfahrungen, die ich sammeln durfte, war der Wechsel für mich ein absoluter Gewinn!

Linus Groschke, *2003, lebt in Augsburg. Dort besucht er aktuell die zwölfte Klasse der Freien Waldorfschule Augsburg. Er ist technisch sehr interessiert und engagiert sich als Hobby-Programmierer. Bei Fridays for Future und im Klimacamp Augsburg ist er politisch aktiv.

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