Waldorf: ein Zuhause

Sophia Meiners

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäste,

ich freue mich, vor Ihnen stehen zu dürfen und so Teil der Festlichkeiten rund um Waldorf 100 zu sein. Ich bin gebeten worden, als Stimme der Schülerschaft vorzutreten und den Waldorfalltag aus Sicht eines Schülers zu beschreiben. Das ist gar nicht so einfach, da sicher jeder Schüler seine ganz eigenen und individuellen Gedanken zum Thema Waldorf hat. … Ich möchte Ihnen heute vor Augen führen, was es für mich so besonders und schätzenswert macht, eine Waldorfschülerin zu sein, warum ich so dankbar bin, hier zur Schule gehen zu dürfen und weshalb ich mit Stolz sage, dass ich durch und durch ein Waldi bin.

Ich engagiere mich viel im Bereich Bildungspolitik und komme so täglich mit vielen verschiedenen Jugendlichen der staatlichen Schulen in Kontakt. Wenn man sich als Waldorfschülerin vorstellt, sieht man immer dieselben überraschten, leider oft leicht belustigten Blicke und es werden auch immer dieselben Fragen gestellt: »Ist das nicht das, wo man keine Noten hat?«, »Kannst du deinen Namen tanzen?«, »Was ist denn so cool an Waldorf?« Ich erkläre dann immer geduldig, dass wir erst ab den hohen Klassen wirkliche Noten, vorher aber schriftliche Zeugnisse mit individuellen Textbeurteilungen von jedem Lehrer bekommen und ich liebe, wenn meine Bekannten und Freunde der staatlichen Schulen dann voll Neid und Bewunderung die Augen aufreißen und sagen, dass sie das auch richtig gerne hätten. Ich erkläre voller Stolz, was Eurythmie ist und widerspreche allen, die sagen, sie sei unnütz. 

Die Waldorfschule, das Waldorfsystem, ist für mich so viel mehr als eine Schule. Es ist für mich ein Ort, an dem ich mich immer, trotz gelegentlichem Stress, geborgen fühle, ein schützender Raum, es ist ein Zuhause. Das mag für den einen oder anderen albern klingen. Aber es ist die Wahrheit. Wenn ich an meine Schule denke, rieche ich den Duft von Lavendel, frischem Holz und Wachsmalkreiden, ich sehe bunte Farben auf Papier und wunderschöne, selbst erstellte Hefte und Bücher und ich höre lachende Kinder und ein manchmal leicht schiefes Flötenspiel. Wenn ich an meine Schule denke, kann ich nicht anders als lächeln. Die Vielfalt, die Waldorf bietet, ist absolut einmalig. Ich höre von keinen anderen Jugendlichen, dass sie so viele Praktika haben wie wir, dass sie so viel praktischen Kunstunterricht haben, ihre Stärken und Schwächen individuell gefördert und sie nicht nur auf Noten, auf Zahlen reduziert werden, sondern dass wirklich sie selbst und vor allem das Menschliche eine Rolle spielt. 

Wenn ich nach meinen Lehrern gefragt werde, kann ich natürlich wie jeder andere Namen nennen und etwas über den jeweiligen Lehrer und sein Fach erzählen. Aber ich habe vor allem durch den lebendigen Unterricht, die wunderschönen Tafelbilder und die Hefte, die wir Jahr für Jahr in jeder Epoche mit Aufsätzen, Geschichten und Bildern füllen durften, gelernt. Im Laufe meiner Schulzeit bin ich in der Deutschepoche mit Goethe in Italien gewesen, und was für eine Reise das war! Ich habe mit Faust und dem Teufel in einer Gaststube gesessen und Bier getrunken und heimlich gehofft, dass Faust nicht auf den teuflischen Plan hereinfällt. Ich erinnere mich an einen Abend vor ein paar Jahren, an dem ich nach Hause kam und meiner Familie ganz schockiert erzählte, dass Schiller heute gestorben ist. Ich werde wohl nie vergessen, wie überrascht meine Eltern schauten, als sie sahen, wie sehr mich sein vom Lehrer erzählter Tod mitnahm. In der Geschichtsepoche habe ich mit den Opfern des Zweiten Weltkrieges mitgefühlt und mitgelitten, habe die Erschütterungen der Bomben und die nackte Angst zu spüren geglaubt und mich dafür geschämt, zu einer Spezies zu gehören, die solch ein Übel und grauenhaftes Leid über unsere Welt bringen konnte. Ich habe in Englisch mit Shakespeare Königin Elisabeth besucht und zugesehen, wie mein geliebtes Globe Theater abbrannte – zwei Mal. Ich habe mit Julia um Romeo getrauert und Lady Macbeth gehasst, weil sie eine so böse und hinterhältige Frau ist. In Französisch habe ich Seite an Seite mit den Rebellen für eine bessere Zukunft gekämpft, in Geographie habe ich meinen ökologischen Fußabdruck errechnet und zu Hause die Abschaffung unserer Plastikflaschen in die Wege geleitet. Ich habe in einem einfachen, klobigen Stück Holz eine Schale und Salatbesteck gefunden und bunte Wolle zu einem Teppich gewebt. Sogar Mathematik hat mich mitreißen können – und das muss bei mir wirklich etwas heißen – sei es nur, um mir bildhaft vorzustellen, ich müsse ein Stück Kuchen auf unendlich viele Menschen aufteilen, um dadurch festzustellen, dass der Grenzwert gegen Null geht.

Kennen Sie diese typischen unsichtbaren Freunde, die Kinder irgendwann im Lauf ihrer Kindheit haben und die dann irgendwann verschwinden, wenn die Pubertät einsetzt? Shakespeare, Schiller und Goethe waren meine unsichtbaren Freunde. Jahre lang. Oh, und können Sie ein Geheimnis bewahren? Manchmal sind sie das immer noch …

Ich möchte nicht sagen, dass es nicht auch hier – wie an jeder anderen Schule auch – ab und zu noch etwas zu lernen oder zu verbessern gibt. Und dass man sich als Schüler manchmal auf das Wochenende und die Ferien freut, ist normal und auch ich bin da keine Ausnahme. Aber ich glaube, dass nur wenige Kinder und Jugendliche wirklich behaupten können, sich in ihrer Schule so gut aufgehoben zu fühlen, wie ich. Es ist für mich eine Ehre und ein Privileg, eine Schule besuchen zu dürfen, in der mir das Lernen Spaß macht und mich der Unterricht mitreißt und begeistert und ich wirklich das Gefühl habe, nicht nur für mein Abitur zu lernen, sondern für mein Leben.

Ich bin stolz, mit den Augen eines Waldorfschülers die Welt zu sehen und mit einem für die Vielfalt und Individualität offenen Herzen meinen Weg zu gehen. Ohne diese Schule wäre ich nicht die Person, die ich heute bin. Daher ein großes Dankeschön und alles Gute zum 100-Jahre-Jubiläum!