Waldorf international

Sven Saar

Das Goetheanum fügt sich – egal von welcher Seite man es betrachtet, ob aus der Nähe oder Ferne – nie völlig harmonisch in die es umgebende Häuser- und Hügellandschaft ein. Der formschöne, gewaltige Bau ist ein steinernes Statement, eine Botschaft der Anthroposophie an die Welt: Ich bin mir meiner Identität bewusst, und als Kulturfaktor kann man mich nicht übersehen! Der tausend Zuhörer fassende Saal, die zahlreichen Konferenzräume, die umliegenden Gebäude und nicht zuletzt die blühenden Kirschbäume geben einen idealen Raum für eine Begegnung für Tagungsteilnehmer aus aller Welt ab.

Hier fanden zu Ostern nacheinander zwei Welttagungen statt: Erst kamen 1.100 Waldorferzieher, in der folgenden Woche dann 1.000 Waldorflehrer aus über 50 Ländern. Diese Tagungen finden seit Jahrzehnten im Vierjahresrhythmus statt und haben sich in dieser Zeit in Form und Inhalt stark gewandelt: Kamen zu Beginn die Menschen noch nach Dornach, um von der Quelle zu trinken, haben sie sich nun durch die Organisation von Christof Wiechert und seinem erfahrenen Team zu einem internationalen Begegnungsort entwickelt. Nur noch rund 100 Teilnehmer der Lehrertagung kommen in diesem Jahr aus deutschsprachigen Ländern. Englisch ist die Lingua franca, über 50 der 70 Arbeitsgruppen werden mehrsprachig angeboten und die großen Vorträge werden simultan ins Deutsche, Englische, Französische, Russische, Italienische, Spanische und Chinesische übersetzt.

Vielfalt und Harmonie

Maja Maletin Kolaric hat vor 20 Jahren mit drei Kollegen die Waldorfschule in Ljubljana/Slowenien gegründet. Sie ist zum vierten Mal bei der Weltlehrertagung: »Wir treffen hier Menschen wieder, die uns in unserer Pionierzeit enorm geholfen haben. Oft wissen sie gar nicht, wie viel wir ihnen verdanken. Wenn sie uns sehen, freuen sie sich immer, wie wir uns mittlerweile fortentwickelt haben.« Maja betont, wie beeindruckt sie von der Gemeinsamkeit in der Verschiedenheit ist: »Hier kommen wir aus so vielen Kulturen, und doch wissen alle instinktiv die Stille nach dem Morgenspruch zu bewahren. Auch die Harmonie beim Singen mit tausend Kollegen ist unvergleichlich!«

Die Morgensprüche stehen immer am Anfang, von der Bühne aus rezitiert in täglich wechselnden Sprachen. Nach dem gemeinsamen Singen gibt es Schülerdemonstrationen aus verschiedenen Fächern von nahe gelegenen Waldorfschulen. Im Tagesverlauf kommen zwei Hauptvorträge zum Tagungsthema »Der Weg des Ich ins Leben«. Seminare und künstlerische Gruppen bieten Gelegenheit, miteinander ins Gespräch zu kommen. In einer der Kaffeepausen begegne ich Zewu Li, der 2004 die erste chinesische Waldorfschule in Chengdu gründete. Inzwischen hat die Schule 130 Schüler und bildet ihre eigenen Lehrer aus. Li schätzt an der Tagung das Netzwerk-Potenzial. Hier können er und seine Kollegen Inspirationen und Ressourcen finden, die ihnen als Pioniere im Waldorf-Neuland oft fehlen. Besonders die offenen und breitgefächerten Diskussionen sagen ihnen zu. Nach der Tagung werden sie noch eine Woche herumreisen und Waldorfschulen in der Schweiz und Deutschland besuchen.

Abendliche Höhepunkte sind die Vorführungen von Zwölftklässlern aus Finnland, Taiwan, den USA und der Eurythmiegruppe »Terra Nova« aus Brasilien. Sie treten vor einem begeisterten Publikum auf und erhalten stehende Ovationen. Die taiwanischen Schüler holen ihre Zuschauer sogar zum gemeinsamen Tanz auf die Bühne, und das Goetheanum erlebt die vielleicht dionysischsten zehn Minuten seiner Geschichte, als sich die eigentlich müden Lehrer, die hier ja immerhin ihre Ferien verbringen, von den enthusiastischen Jugendlichen mitreißen lassen.

Bunt und experimentierfreudig

Am letzten Vormittag versammelt sich der Haager Kreis, eine der richtung­weisenden Gruppen in der internationalen Waldorfbewegung, auf der Bühne, der Vorhang öffnet sich und ein Segelschiff mit großem Steuerrad erscheint. Christof Wiechert, der die Pädagogische Sektion über viele Jahre inspirierend geleitet hat, wird an Bord geladen, um ein letztes Mal das Steuer in die Hand zu nehmen. Weggefährten und Kollegen finden humorvolle und bewegende Worte – eine passende Verabschiedung aus der Sektionsarbeit für einen Mann, der impulsreich gearbeitet und sich durch seine Herzenswärme viele Freun­de geschaffen und bewahrt hat. Wiechert übergibt jetzt das Steuer seinem Nachfolgertandem Florian Osswald und Claus-Peter Röh, die mit ihm zusammen fröhlich und tatkräftig den Geist der Veranstaltung verkörpern.

Die Organisation und Finanzierung einer solch gigantischen Tagung nimmt zwei Jahre in Anspruch. Für viele der Teilnehmer müssen Sponsoren gefunden werden, da ihre mageren Gehälter daheim kaum die Busfahrkarte zum Flughafen abdecken würden. Sie zehren oft jahrelang von ihren intensiven Erlebnissen und Begegnungen in dieser Woche. Den Wert dieser Inspirationen kann man in keiner Währung messen. Wie frisch und bunt, wie mutig, wie experimentierfreudig und energiegeladen die weltweite Waldorfbewegung geworden ist, lässt sich in den etablierten mitteleuropäischen Schulen manchmal nur schwer erleben – in Dornach konnte man es hautnah spüren!