In Bewegung

Waldorflehrpläne neu denken und gestalten

Kath Bransby und Martyn Rawson

In vielen Ländern verlangt der Staat von den Waldorfschulen, dass sie staatliche Lehrpläne umsetzen oder zumindest nachweisen, dass der Waldorflehrplan mit den staatlichen Erwartungen vereinbar ist. Die nationalen Bildungsministerien fordern zu Recht, dass ihre Bildungssysteme den Bedürfnissen der Gesellschaft und der Wirtschaft entsprechen und dass kein Kind zurückgelassen wird. Die Methoden, die sie wählen, um Mindeststandards und Qualität zu gewährleisten, mögen hart sein oder Inspektionen und Tests beinhalten, aber das angestrebte Ziel kann nicht ernsthaft in Frage gestellt werden. Gesetze und Vorschriften werden in der Regel nicht geschaffen, um den Waldorfschulen Probleme zu bereiten, aber sie haben oft diesen Effekt.

Der Kerngedanke des Waldorflehrplans – und das ist unserer Meinung nach das, was Steiner den idealen Lehrplan nannte – ist die Abfolge von Entwicklungsschritten. Diese Schritte werden als Motive und Aktivitäten und nicht als Inhalte formuliert.

Die Grundannahme des Waldorflehrplans ist, dass die Pädagogik das Lernen und die Entwicklung, begleitet, gestaltet und lenkt. Indem man in einem bestimmten Alter bestimmte Dinge auf bestimmte Art und Weise tut, wird das Lernen aktiviert und die Entwicklung angestoßen. Jede erfolgreiche Lern- und Entwicklungsstufe eröffnet neue Möglichkeiten des Lernens, und so treibt das Lernen die Entwicklung voran. Ein Schritt führt zum nächsten. Da das Lernen in Lerngemeinschaften, also in der Waldorfklasse, von Kindern und Jugendlichen gleichen Alters stattfindet, wird die Entwicklung innerhalb der heterogenen Gruppe zudem tendenziell angeglichen und harmonisiert. Die Abfolge der Entwicklungsaufgaben wird in übergreifende Themen für jedes Jahr übersetzt.

Wir können den Lehrplan als salutogenetischen Prozess bezeichnen, weil er darauf abzielt, einen Kontext zu schaffen, in dem Einzelne und Gruppen durch die Erfahrung eines kontinuierlichen Kohärenzgefühls Resilienz und Wohlbefinden entwickeln können. Dies geschieht, wenn Kinder und Jugendliche generell das Gefühl haben, dass das, was sie lernen müssen, verständlich, machbar und sinnvoll ist. Wir erinnern uns an Steiners Begriff der Ökonomie der Seele; man kann mit minimalen Mitteln in kürzester Zeit so viel Inhalt vermitteln, wie nötig ist, solange kein einziges Kind den Überblick verliert, das heißt, den Sinn und Zweck nicht mehr versteht.

Dreistufiger Lehrplan

Wir können also drei Ebenen des Lehrplans unterscheiden:

Wir halten die Markroebene für allgemein oder international gültig, die Mesoebene für national oder regional gültig. Die Mikroebene, die «Kunst des Unterrichtens», wird durch die Lehrperson verantwortet. Die Schulleitung ist dafür rechenschaftspflichtig.

Auf der Makroebene werden keine spezifischen Inhalte genannt, sondern nur Entwicklungsthemen. Auf der Mesoebene gibt der Lehrplan Beispiele für Inhalte und Aktivitäten, die reichhaltige Lernmöglichkeiten anbieten. Wenn der Lehrplaninhalt auf der Mesoebene eine mögliche Antwort auf die gestellte Entwicklungsfrage darstellen soll, dann muss die Wahl dieses Inhalts pädagogisch begründet werden. Wenn also zum Beispiel die traditionelle Landwirtschaft ein Thema in der dritten Klasse ist, wird dies pädagogisch durch den Verweis auf das idealtypische Entwicklungsthema begründet und nicht nur unterrichtet, weil es im Lehrplan steht. Die dabei erlernten Fähigkeiten und Kenntnisse beziehen sich sowohl auf die Tätigkeit als auch auf die lokalen gesellschaftlichen, kulturellen und oft auch politischen Erwartungen.

Lehrplan entwickeln

In diesem Projekt haben wir an der Entwicklung eines Makro-Lehrplans und eines Meso-Lehrplans gearbeitet, die für den britischen Kontext geeignet sind. Anstatt ein festes, papierbasiertes Lehrplandokument zu veröffentlichen, haben wir uns entschieden, eine digitale Anwendung zu entwickeln, die Lehrkräften bei der Navigation durch die Informationen hilft, aber auch ihre kreative Gestaltung eines Mikro-Lehrplans für ihre eigene Klasse unterstützt. Die Erfahrung mit dem Lehrplan von Rawson und Richter zeigt, dass der Lehrplan zum Kanon wird, wenn er erst einmal gedruckt und jahrelang oder überhaupt nicht überarbeitet wurde. Digitale Texte können bei Bedarf schnell überprüft und geändert werden.

Wir beginnen auf der Makroebene, indem wir allgemeine Beschreibungen der Entwicklungsaufgaben für jedes Jahr des Lehrplans formulieren. Wir haben diese Beschreibungen auf bestehende Texte in veröffentlichten Lehrplänen in deutscher und englischer Sprache gestützt und sie dann in zeitgemäßer Sprache neu formuliert.

In einem zweiten Schritt haben wir ermittelt, welche Themen derzeit in allen Fächern unterrichtet werden, und zwar sowohl im Hauptunterricht als auch im laufenden Fachunterricht. Wir unterschieden zwischen kurzen Blöcken (Hauptunterricht) und langen Blöcken, etwa Themen oder Fächer mit einem längeren Lernbogen. Für jeden Block gibt es vorgeschlagene Inhalte und Hinweise auf mögliche Unterrichtsmethoden. Der vielleicht wichtigste und schwierigste Schritt ist eine kurze pädagogische Begründung für den Blockplan: Warum unterrichte ich diesen Stoff auf diese Weise mit dieser Klasse? Die Lehrkraft kann dann entweder ihre eigenen Inhalte formulieren oder eine bestehende Beschreibung aus der Ressource verwenden. Das ist wie ein Lehrplanbuch, in dem man nachschlagen kann, was in den einzelnen Fächern und Klassen empfohlen wird. Ein weiterer Vorteil einer digitalen Anwendung ist, dass die Lehrkräfte nicht nur die empfohlenen Unterrichtspläne sehen können, sondern auch die der anderen Lehrkräfte in ihrer Schule, zum Beispiel die der vorigen Klasse; außerdem können sie Empfehlungen für Forschungsmaterialien und Lehrmittel für jeden Block auf nationaler Ebene austauschen.

Im Anschluss an diese Schritte wird die Lehrkraft aufgefordert, eine Reihe weiterer Faktoren zu berücksichtigen, wie etwa die verwendete Literatur, die Maßnahmen zur Inklusion, die Differenzierung der Aufgaben, die Kontextualisierung des Lehrplans und so weiter. In der folgenden Grafik sind die Schritte der Unterrichtsplanung und -überprüfung aufgeführt, die von der digitalen App unterstützt werden.

Die letzten Abschnitte enthalten altersbezogene Lernmöglichkeiten und Lerndeskriptoren. Der neue Lehrplan und damit auch die Art of Teaching App schlägt die Lernmöglichkeiten vor, die in jedem Fach und in jeder Klasse angeboten werden sollten. Diese beziehen sich darauf, wie Fertigkeiten und Wissen erlernt werden, und ermöglichen es den Lehrkräften auch Unterrichtsfächer über verschiedene Blöcke hinweg zu verfolgen. Sie sind in der Regel offen formuliert: zum Beispiel «Kinder in Klasse zwei sollten die Möglichkeit haben, zu beobachten, zu erforschen, zu begegnen, zu entdecken, zu dokumentieren, zu üben» usw.

Für jedes Fach wird eine Abstufung der Lernniveaus von Anfänger:innen bis zu aufstrebenden Expert:innen formuliert. Diese Stufen sind von den Lernangeboten in den einzelnen Klassen getrennt, stehen aber natürlich miteinander in Verbindung.

Auch können die Fähigkeiten fächer- und jahrgangsübergreifend in Bezug auf die langfristigen Gesamtziele der Bildung abgebildet werden. Dabei geht es darum, die Umwandlung der Potenziale in fächerübergreifende und spezifische Fähigkeiten und Fertigkeiten über den Lehrplan hinweg zu verfolgen. Dieser Aspekt bietet den Schulen die Möglichkeit, gegenüber externen Stellen zu zeigen, wie der Waldorflehrplan Fähigkeiten und Wissen aufbaut.

Evaluation

In der Pilotphase dieses Projekts wird eine Evaluierung der Erfahrungen von Lehrkräften durchgeführt, die mit diesem Tool arbeiten. In nicht-englischsprachigen Ländern wird der Inhalt derzeit übersetzt. Derzeit arbeiten Schulen in Großbritannien, USA, Südafrika, Taiwan und Belgien mit der App. Die ersten Rückmeldungen von jungen und neuen Lehrkräften sind sehr positiv, während ältere Lehrkräfte anfangs eher skeptisch sind. In den Ländern, in denen Schulleiter:innen eine aktive Rolle in der Qualitätssicherung und -entwicklung im Klassenzimmer spielen, erweist sich dieses In-
strument als sehr nützlich. Überall haben die Beteiligten erkannt, dass es viele Fragen zur bestehenden Praxis und deren Rechtfertigung stellt, was sowohl eine Herausforderung als auch zeitaufwendig ist. Es erweist sich als sehr nützlich, wenn Schulen und Verbände die Notwendigkeit sehen, ihren Lehrplan zu überarbeiten und neue Themen einzubeziehen (wie etwa Medienerziehung, neue Ansätze zu Geschlecht und Beziehungen sowie Dekolonisierung).

Die App wurde für britische Waldorfschulen entwickelt und basiert auf einer aktualisierten und überarbeiteten Version des historischen Waldorflehrplans (Avison, Rawson und Richter, 2014). Sie berücksichtigt auch die staatlichen Anforderungen hinsichtlich bestimmter spezifischer Fähigkeiten und Kenntnisse, vor allem im Bereich der persönlichen, sozialen und gesundheitlichen Aspekte. Wir gehen davon aus, dass die Abfolge der Entwicklungsthemen (Makroebene) für alle Waldorfschulen allgemein gültig ist. Wenn die App in einem anderen Land verwendet werden soll, muss sie natürlich auf der Mesoebene angepasst werden. Ziel ist es, zunächst die allgemeine Gültigkeit der Entwicklungsthemen zu überprüfen, dann die aktuelle Lehrplanpraxis in jedem Land zu beschreiben und zu vergleichen und schließlich die Entwicklung eines kontextualisierten und kulturell kompetenten lokalen Lehrplans auf nationaler Ebene zu unterstützen.

Dr. Martyn Rawson, * 1954 in Glasgow. Seit 1979 an Waldorfschulen als Klassenlehrkraft und Fachlehrkraft tätig. Mitgründer der York Steiner School, UK. Zurzeit Lehrkraft in der Oberstufe der Christian Morgenstern Schule Hamburg, Dozent am Waldorfseminar Kiel, Hon. Prof. National Tsinghua University, Taipeh. Jüngstes Buch Steiner Waldorf Pedagogy in Schools: A critical introduction, von Routledge herausgegeben.

Kath Bransby, Jobs im Verlag und im Gesundheitswesen, dann 15 Jahre lang Grundschullehrerin. Ausbildung zur Waldorferzieherin. Seit  2019 ist sie Bildungskoordinatorin bei Steiner Waldorf Schools Fellowship. Daneben Tätigkeit als Dozentin in der Lehrerausbildung an der Sheffield Hallam University.

Eine Langversion dieses Artikels inklusive Quellenangaben finden Sie hier.

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