Berge erziehen

Lorenzo Ravagli

Wenn Berge auffordern, die eigene Trägheit zu über­winden, dann hat das etwas mit Erziehung zu tun. Ist doch ein Gipfel, der tausend Höhenmeter und mehr vom Talort entfernt liegt, ohne massiven Willensakt nicht zu erreichen, vorausgesetzt, man verzichtet auf die Segnungen der Technik.

Aber auch der Aufenthalt in der freien, rauen, manchmal durchaus lieblichen, immer aber kaum zu berechnenden Landschaft des Hochgebirges, die heute vielfach unter Schutz steht, ruft gewaltige Wirkungen hervor, selbst in jenen, die sich anfangs gegen diese Wirkungen sträuben. Die Rechnung ist einfach: Je länger der Aufenthalt, um so tiefer die erzieherischen, bildenden Wirkungen. Daher machen sich immer wieder Schulklassen auf, das Abenteuer mehrtägiger, sogar mehrwöchiger Wanderungen im Hochgebirge zu bestehen. Nicht weil ihre Lehrer begeisterte Alpinisten sind – das vielleicht auch. Aber die bildende Kraft der Natur ist nicht zu unterschätzen. Goethe wies auf diese Wirkung hin, als er schrieb: »Wem die Natur ihr offenbares Geheimnis zu enthüllen anfängt, der empfindet eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrer würdigsten Auslegerin, der Kunst.« Goethe, der mit geradezu inbrünstiger Hingabe alle Manifestationen der Natur, auch die rauen, überwältigenden, in sich aufsog, erlebte immer wieder, wie sie ihn zur Kunst drängte. Das Gewaltige, ebenso wie das Liebliche, das Wild-Romantische und das Beängstigende, sie regen gleichermaßen die Phantasie an und wecken den Trieb, die erlebten Erfahrungen künstlerisch zu verarbeiten.

Zwei Schulen haben vergangenen Sommer das Wagnis Alpen auf sich genommen: eine 9. Klasse der Ulmer Waldorf­schule-Römerstraße und die 6. Klasse der Talanderschule aus Wangen. Die Ulmer waren vier Tage im Allgäu unterwegs, die Wangener sogar 22 Tage, von Tschagguns im Montafon bis nach Tirano im Veltlin. Die Wangener fertigten über ihre Höhen- und Tiefenwanderung sogar einen Film an. Sie finden ihn auf der Webseite der Erziehungkunst.

Allgäuer Höhen und Tiefen – Ulmer Neuntklässler berichten

»Ein riesiges Wagnis ging Ina Boos ein: einen Wandertrip über die Berge mit einer Chaotenklasse. Schon der Start war anstrengend, da einige Schüler an ihre Grenzen stießen. Doch was für ein Erlebnis, alle am Abend um den Tisch sitzen zu sehen, mit müden Gesichtern und Augen, aus denen der Stolz strahlte.

Wie immer, wenn wir für längere Zeit alle auf einem Haufen leben, spürt man die großartige Gemeinschaft und den unerschütterlichen Zusammenhalt. Man fühlt sich sicher und geborgen, wie in einer großen Familie. Wunderbar war es zu erleben, dass man niemals Angst vor besonders schwierigen Stellen haben musste, da es immer helfende Hände gab, die auf jeden warteten, um ihn zu führen.

Man könnte meinen, dass die echten Wanderer, die teilweise über eine Stunde früher als andere oben an der Hütte ankamen, sich dort einen Almdudler gönnten, um zu relaxen.

FALSCH – so war es nicht! Rührenderweise sprinteten unsere begeisterten Wanderbürschchen den Berg wieder hinunter, um den Schwächsten zu helfen. Fazit: Trotz teilweise unerträglicher Anstrengung war es ein wunderschönes, unvergessliches Erlebnis mit der ganzen Klasse.« Susanna, Selma, Mona

Die Alpenüberquerung der Wangener Talanderschüler

Die zehn 12- bis 14jährigen Schüler der Talanderschule für Erziehungshilfe waren insgesamt 22 Tage unterwegs. Die Klasse erhielt ein Reisestipendium des Netzwerkes Via Alpina, richtete zu ihrer Abenteuerfahrt einen Blog ein (viatalander.blogspot.com) und drehte einen Film, der Anfang November 2011 bei einer Geburtstagsfeier des Alpenvereins Monaco vorgeführt wurde. Die Route von Tschagguns nach Tirano führte die Sechstklässler entlang des roten Weges der Via Alpina von Österreich über die Schweiz nach Italien. Sie durchquerten das Rätikon, die Silvretta, das Unterengadin und die Livignoalpen bis ins Veltlin in 15 Tagesetappen. Die reine Gehzeit betrug etwa 80 Stunden, dabei wurden 15.000 Höhenmeter und eine Strecke von 225 Kilometern zurückgelegt. Von der Fülle der Erlebnisse zeugt folgende atemlose Aufzählung:

»Wir haben Freude und Streit, Überfluss und Entbehrung, Angst und Begeisterung miteinander geteilt, haben uns mit unseren schweren Rucksäcken langsam die Berge hochgeschleppt und sind die Hänge schnell hinunter geschritten, hatten Blasen an den Füßen und Muskelkater in den Beinen, haben nicht mehr gekonnt und sind doch weitergelaufen, haben uns beleidigt und geschlagen und doch wieder vertragen und entschuldigt, haben den Weg verloren und wieder gefunden, haben breite Straßen, steinige Feldwege, schmale Wanderwege und kaum sichtbare Pfade beschritten, haben ungefähr 500.000 Schritte gemacht, 250.000 Meter unter die Füße genommen und dabei 20.000 Höhenmeter erklommen, sind auf 3.000 Meter hochgeklettert und auf 400 Meter abgestiegen, haben unendlich viel Steine und Wasser gesehen, haben Wind und Regen, Schnee und Eis, Gletscher und Sonne hautnah erlebt und ihnen getrotzt, haben uns an Blumen in allen Farben und knorzigen Bäumen erfreut, haben Steinböcke, Gemsen, Hirsche, Rehe, Murmeltiere und Adler aus der Ferne und Hühner, Schafe, Ziegen, Kühe, Esel, Lamas und Pferde aus der Nähe wahrgenommen, haben viele verschiedene Sprachen und Kulturen, Menschen und Mahlzeiten erlebt, haben auf 18 verschiedenen Hütten, Gasthäusern, Hotels, Strohlagern, Jugendherbergen und Campingplätzen übernachtet, haben am Anfang und am Ende in Tschagguns und in Tirano den Bürgermeister kennen gelernt und viele Geschenke erhalten, haben uns in Scuol im Wellnessbad verwöhnen lassen, HABEN EINFACH UNENDLICH VIEL ERLEBT UND ERFAHREN!«

Zusammengestellt von Lorenzo Ravagli auf der Grundlage von Texten von Berthold Brommer, Andrea Nenning, Astrid Honc und Schülern aus Ulm und Wangen.